Die Schrift an der Wand
wie ein Ehepaar mittleren Alters, das einander nichts
mehr zu sagen hatte, auf dem Weg zu irgendeinem Einkaufszentrum.
In Rådal zeugte der Gestank von der Müllhalde davon, daß es
nicht mehr lange dauern würde, bis die fast dreißig Jahre alte
Entsorgungsanlage so voll war, daß sie überlief. Dann waren wir
draußen in dem breiten Landwirtschaftsgebiet zwischen Stend
und dem Fanafjell, wo der Wind vom Meer her die Schneeflocken waagerecht in die Landschaft schickte, wie etwas zu
übermütig gezogene Ritzen in der Kupferplatte. Die Kirche in
Fana mit ihrem mittelalterlichen grauen Steinpflaster lag wie ein
Mahnmal von Leben und Tod am Fuße des Fanafjells, und ich
schaltete in einen niedrigeren Gang, um den Wagen problemlos
die ersten steilen Kurven bergauf zu lenken. Als wir uns dem
höchsten Punkt der Straße näherten, legte sie plötzlich die Hand
auf meinen Arm und zeigte nach links. »Fahren Sie auf den
Parkplatz da, Veum.«
Ich tat, was sie sagte.
Sie umfaßte den Türgriff. »Ich hab das Bedürfnis nach etwas
frischer Luft, bevor …«
Ich nickte und schaltete den Motor aus.
Es standen keine anderen Autos dort. Wir befanden uns so
völlig außerhalb jeder Saison, daß das Café auf dem Fanaseter
geschlossen war, und falls sie in den Gehegen dort hinten noch
Tiere hielten, dann kamen zu dieser Jahreszeit weder Kindergartenkinder noch andere, um sie zu besichtigen.
Sidsel Skagestøl ging vor mir her zu dem alten Aussichtspunkt, wo das Stativ für ein Panoramafernglas, dem der fleißige
Kiefernwuchs längst die Aussicht versperrt hatte, immer noch an
seinem Platz stand. Sie ging weiter die Felsen hinauf in Richtung Norden, bis sie endlich das Gefühl hatte, weit genug oben
zu sein, stehenblieb und den Blick umherwandern ließ, während
der Wind an ihren blonden Haaren zerrte, und sie den dunkelgrünen Mantel eng um sich ziehen mußte, um nicht zu frieren.
Ich trat neben sie und folgte ihrem Blick in die Ferne. Im
Südwesten schnitt der Korsfjord zwischen Austevoll und Sotra
tief in die Landschaft ein, wo sich der Liatårn mit seinen 341
Metern über dem Meeresspiegel erhob. Im Nordwesten, auf der
anderen Seite des Nordåsvanns lagen die Häuser von Bønes an
der langgestreckten Westseite des Løvstakken entlang wie eine
schorfige Wunde in der Natur, und dahinter wiederum stach der
höchste Punkt des Lyderhorns 396 Meter hoch in die Luft.
Hinter den Bergen zeichnete der Horizont seine Linie wie eine
zarte Grenze zwischen Grau und Weiß irgendwo weit draußen
auf dem offenen Meer.
»Das Leben ist etwas, das man verliert«, sagte sie leise. »Stück
für Stück.«
»Mhm …«
»Die Kindheit liegt so weit zurück. Man ist jung und wild,
voller Erwartungen an das Leben, und dann – dann ist plötzlich
diese Phase vorbei. Man begegnet der Liebe oder auch nicht, in
all ihren Schattierungen. Und ehe man sich’s versieht, ist sie
auch vorbei. Die Kinder, die man in die Welt setzt …« Sie
schluckte und blinzelte die Tränen aus den Augen, als sei der
Wind ihr zu scharf.
»Plötzlich sind sie auch weg.«
»Aber das Leben geht weiter, Sidsel.«
Sie schien mich nicht zu hören. »Manche würden sagen, das
Leben sei etwas, das wir aufbauen, Stein für Stein, bis wir am
Tag, an dem wir sterben, mit einem fertigen Gebäude dastehen.«
»Mmh.«
»Ich würde es anders beschreiben. Das Gebäude ist das, was
du bekommst, wenn du geboren wirst. Ein stattliches Haus, in
das jemand dich einlädt. Aber es vergehen nicht viele Sekunden,
bevor sie anfangen, es dir wieder abzureißen, Stück für Stück,
bis du zum Schluß dasitzt, ganz allein, auf dem unbebauten
Grundstück. Und manche Häuser«, fügte sie mit plötzlicher
Heftigkeit hinzu, »die werden nicht einmal ganz abgerissen! Die
stehen da, in alle Ewigkeit, als unvollendete Leben.«
Sie drehte sich abrupt um und sah nach Osten, wo die kleine
Gletscherzunge auf der anderen Seite des Hardangerfjords wie
eine Daunenfeder zwischen den Bergen von Fusa lag. »Und da –
liegt der Folgefonn, wie er seit Tausenden von Jahren dagelegen
hat. Der stirbt nie.«
»Na ja. Mit Gletschern ist es wie mit Menschen. Auch sie
kommen und gehen. Sie brauchen nur etwas mehr Zeit dazu.«
Sie begann, wieder bergab zu gehen. »Wollen wir weiterfahren?«
»Das entscheiden Sie.«
Wir setzten uns wieder ins Auto.
Das Tal im Osten des Fanafjells ist mit Nadelwald zugewachsen, bis zur Spitze des Lyshorn, und die Straße führt in schmalen
Windungen
Weitere Kostenlose Bücher