Die Schrift an der Wand
und als
ich versuchte, den Blick scharf zu stellen, sah ich sie einen
Augenblick alle beide doppelt.
Trotzdem gelang es mir, den nächsten Schlag zu parieren,
jedenfalls gut genug, um in Verteidigungsposition zu kommen,
und er war kein geübter Kampfhahn, sondern es war nur sein
Temperament, das ihn sofort zum Platzen gebracht hatte.
»Scheiß noch mal, Veum, hier tun wir Eltern alles, um unsere
Kinder zu schützen, ich mache früher, als ich sollte, Feierabend,
nur um rechtzeitig hier oben zu sein und sie abzuholen, mit den
Konsequenzen, die das für meinen Feierabend hat, und dann
kommen Sie hier an und …«
»Sie glauben ihr doch nicht etwa, Furubø? Denken Sie, ich bin
ein Idiot, oder was? Ich hab ihr verdammt noch mal gar nichts
vorgeschlagen! Ich habe ihr ein paar Fragen gestellt, und wenn
Sie das nicht glauben, dann können wir alle drei zum Polizeirevier runterfahren und sie da wiederholen!«
Er beruhigte sich. Sein Blick flatterte zu seiner Tochter.
»Åsa?«
Sie sah ihn trotzig an.
»Ich habe gefragt, ob es nicht so gewesen sei, daß sie und
Helge Hagavik ungefähr die letzten waren, die Torild sahen,
bevor sie verschwand. Das hat sie bestätigt. Helge Hagavik sitzt
als sogenannter ›Zeuge‹ in U-Haft. Er weiß in jedem Fall mehr,
als er zugeben will. Das bringt mich auf die Idee, daß auch Åsa
mehr weiß –«
Er hatte die Fäuste jetzt gesenkt. Seine Arme hingen herab, als
gehörten sie gar nicht zu ihm. »Åsa –«
»Ich hab gesagt, was ich zu sagen hab. Torild und ich waren
im Jimmy, und da saßen wir und quatschten mit diesem Typen,
ich weiß nicht, wie er hieß oder wer er war, und dann bekam
Torild – dann kam – aber ich ging nach Hause.«
»Dann bekam Torild was?« fragte ich.
»Einen Anruf!«
»Und von wem?«
»Was weiß denn ich? Sie müsse gehen, sagte sie zu He …,
also zu dem Typen, und dann gingen wir.«
Ich sagte so ruhig ich konnte: »Das Schwierigste beim Lügen,
Åsa, ist, daß es die ganze Zeit so unmöglich ist, zu behalten, was
man gesagt hat und was man nicht gesagt hat. Du fängst an,
deine Karten zu vermischen.«
»Scheiße, das tu ich nicht! Ich sage es genau so wie es war!
Torild ging, und ich ging, um mit dem Bus nach Hause zu
fahren! Fragen Sie doch Mama, wann ich nach Hause gekommen bin!«
»Das stimmt, Veum«, sagte Trond Furubø leise. »Meine Frau
kann bestätigen, daß sie überraschend früh nach Hause kam an
dem Abend.«
»Aber das erklärt noch nicht, ich meine, ich glaube, du weißt
nur zu genau, wo Torild an dem Abend hinwollte!«
»Nein, weiß ich nicht! Ich weiß es nicht!« Sie wandte sich an
ihren Vater. »Können wir jetzt fahren?«
»Ja, wir …« Trond Furubø raffte sich auf. »Das hier geht Sie
streng genommen gar nichts an, Veum. Setz dich ins Auto, Åsa.
Wir fahren.«
Ich seufzte schwer.
Wenn sie die Wahrheit sagte, gab es nur zwei Leute, die das
bestätigen konnten. Die eine davon war tot. Der andere war
Helge Hagavik, und der saß in U-Haft.
31
Vidar Waagenes war Anwalt in einer Gemeinschaftspraxis im
vierten Stock eines Gebäudes in der Strandgate. Er war kleiner,
als er auf dem Bild wirkte, das ich von ihm in der Zeitung
gesehen hatte. Sein dunkler Pony fiel ihm die ganze Zeit in die
Stirn, und er hatte sich eine typische Handbewegung angewöhnt,
um ihn wieder zurückzustreichen.
Er war wenig über dreißig, aber obwohl er so jung war, hatte
er sich hinter den Schranken des Gerichts deutlich hervorgetan.
Deshalb überraschte es mich, daß er so verhältnismäßig weichlich wirkte, freundlicher und nachgiebiger als ein Banker, der
ein riesiges Investitionsobjekt wittert.
Es war fast drei Uhr, bevor er dazu kam, mich zu empfangen,
weil die Gerichtsverhandlung, an der er teilgenommen hatte,
›etwas vor der Zeit‹ beendet war, wie er mir sagte, als er aus
dem Gerichtsgebäude geeilt kam. Seine freundliche Sekretärin,
die mir einen großen Becher Kaffee angeboten hatte, während
ich wartete, gab ihm einen noch größeren Stapel Gerichtsakten,
mit denen er sich, seinem Blick nach zu urteilen, zu Hause im
Bett einen gemütlichen Abend machen würde.
Er winkte mich in sein Büro, ließ den Aktenstapel auf den
ebenholzschwarzen Schreibtisch fallen, hängte seinen grauen
Mantel und den burgunderfarbenen Wollschal auf einen Kleiderständer und bat mich, in einem ungewöhnlich gemütlichen
Kundensessel mit hohen, gepolsterten Armlehnen und einem
Rücken, an dem man sich richtiggehend ausruhen konnte,
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