Die Schrift an der Wand
jemand verloren hat und niemals
wiederfinden wird.«
»Aber manchmal sieht sie doch etwas durch das Fenster?«
Sie sah mich überrascht an. »Ja, das tut sie. Manche Erinnerungen sind wie festgenagelt.«
»Sie hat etwas von einem Jungen namens Roger gesagt. Können Sie sich an ihn erinnern?«
»Roger, Roger … War das nicht der, der ertrunken ist?«
»Ertrunken?«
»Ja, oder … ich bin nicht sicher. Das sollten Sie lieber Einar
fragen.«
»Ihren Bruder?«
»Ja.«
»Wo finde ich ihn?«
»Na ja, er …« Ein Schatten flog über ihr Gesicht. »Den finden
Sie nicht so leicht.«
»Nein, warum nicht?«
»Er ist nicht gesund. Was heißt, gesund … Im Klartext – er ist
in einer Entziehungsanstalt für Alkoholiker, unten in Jæren.«
»Ich hätte sehr gern ein paar Worte mit ihm gewechselt.«
Sie sah mich forschend an. »Und warum?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich glaube wirklich, es
könnte ziemlich wichtig sein.«
Nachdem sie noch eine Weile überlegt hatte, faßte sie einen
Entschluß. »Na gut, das wird ja wohl … Wenn es nur dazu
führen könnte, daß er sich spürt, daß er fühlt, daß er etwas wert
ist, dann … Hier …«
Sie schrieb Namen und Adresse ihres Bruders auf einen Zettel
und gab ihn mir. Danach schloß sie mir die Tür auf, ließ mich
hinaus und wünschte mir viel Glück. Ich bedankte mich, ging
zur Rezeption hinunter und bestellte mir ein Taxi zum Bahnhof.
39
Nirgendwo in diesem Land ist der Himmel so schwer wie über
Jæren. Nirgendwo trägt er so viel Meer in sich. An Grauwettertagen gehen Himmel und Meer da draußen ineinander über, als
hätte jemand einen Zipfel der Wolkendecke unter das Festland
geschlagen, wie eine tüchtige Hilfsschwester im Krankenhaus
beim Bettenmachen. An Sonnentagen zieht das Meer hinauf und
wird zu Regen, lange bevor man es ahnt.
An diesem Tag lag eine Haut aus Frost über dem Horizont, ein
Federstrich, den selbst das Nachtdunkel nicht ganz würde
wegwischen können.
»Das Wahrzeichen des Februar«, murmelte Einar Litlabø und
nickte in die Richtung.
»Was meinen Sie damit?«
»Daß das Meer zu dieser Jahreszeit dunkler ist. Als sei die
Farbe aus allen Winternächten da runtergetropft in eine Art
Schmelztiegel. Deshalb haben wir so starke Stürme im Spätwinter, damit vor dem Frühling alles befreit ist. Wußten Sie das
nicht?«
Er hatte mich zu einem Spaziergang auf schmalen Seitenwegen eingeladen, der durch die windgeschütztesten Senken in
dem vom Wind gepeitschten Terrain führte. Der Weg war mit
düsteren Steinwällen markiert, den ewigen Grenzwällen im
norwegischen Bauernland, die immer dem einen oder anderen
ein Dorn im Auge waren und Anlaß für Hunderte von Rechtsstreitigkeiten und Tausende von Nachbarschaftsfehden. Es
schien so, als sei er erleichtert über die Unterbrechung in der
täglichen Routine, und als ich dem diensthabenden Arzt von
meinem eigenen Aufenthalt in Hjellestad vor ein paar Jahren
erzählte, ließen sie uns ohne schriftliche Sondererlaubnis aus
dem inneren Anstaltsgelände heraus, in der Hoffnung, daß er in
guten Händen sei.
Die Verwandtschaft mit seiner Schwester zeigte sich vor allem
in der Haarfarbe. Einar Litlabø hatte dunkles, schulterlanges
Haar mit grauen Rallyestreifen, als sei das Leben allzu schnell
an ihm vorbeigegangen und als habe er nie Zeit gehabt, zum
Frisör zu gehen. Sein Gesicht war mager, mit tiefen Furchen von
den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln hinunter. Die Stirn
wirkte sorgenvoll, und aus seinem Blick sprach die schwelende
Angst, die mir erzählte, warum er war, wer er war.
»B-B-Birger? Sie wollen über Birger reden? Warum denn
das?«
»Haben Sie noch Kontakt zu ihm?«
»Zu Birger? O nein! Seit vielen Jahren nicht! Das war, als wir
klein waren. Lange bevor er aus Stavanger wegzog.«
»Aber damals kannten Sie ihn gut? Als ihr klein wart?«
»J-j-ja sicher! Wir waren die besten Kumpels. Der Birger und
ich. Die besten Kumpels.«
»Und Ihnen war es also egal, daß ihn die anderen ›Deutschenbalg‹ nannten?«
»Ach, ›Deutschenbalg‹ … Der Birger, der war in Ordnung.
Wir stammten ja selbst von Zigeunern ab. Hat Trude Ihnen das
nicht erzählt? Nein, hat sie wohl nicht. Nein.«
»Ich hab nur kurz mit ihr geredet.«
»Is’ schon klar. Zigeuner, die sich niedergelassen haben, und
Deutschenbalg, das war irgendwie eh derselbe Haufen, wissen
Sie.«
»Ihr wurdet gemobbt – aufgezogen hieß das vielleicht damals
–, auch Sie und Ihre Schwester?«
»Und alle
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