Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
Bekanntschaft noch weiter
vertieften. Mit ihren weißen Schenkeln zu beiden Seiten meines
Kopfes und das Gesicht tief im Hafrsfjord verankert hörte ich
ihren Rogalanddialekt wie einen fernen Abzählreim in der Luft
über mir: O ja, o ja, o ja, Varg!
    Nur wenige Monate später zog ich in ihre deutlich geräumigere Einzimmerwohnung in der Wesselsgate ein. Als sie
eineinhalb Jahre später mit der Schule fertig war, fuhr sie mir
voraus nach Bergen, wo sie eine Vertretungsstelle beim Sozialamt bekommen hatte, während ich den Rest der Zeit in
Stavanger damit verbrachte, hin und her zu pendeln. Im Mai
dieses letzten Jahres heirateten wir, und zwei Jahre später
bekamen wir Thomas. Keiner von uns hatte den Namen Lasse
Wiik jemals auch nur gehört.
    In Stavanger verbrachte ich ein paar meiner glücklichsten
Jahre, und ich konnte nicht in diese Stadt zurückkommen, ohne
daran erinnert zu werden, daß das Glück ein flüchtiges Gefühl
ist, genauso leicht einzufangen wie ein Strahl Mondlicht.
Das Pflegeheim Seelenfrieden lag irgendwo gleich außerhalb
von Bjergsted. In dem modernen Betongebäude mit Aussicht auf
den Byfjord fragte ich an der Rezeption nach und wurde zwei
Etagen höher und dann nach rechts geschickt. »Die Tür ist
abgeschlossen, es ist die Abteilung für die Dementen, aber man
braucht nur zu klingeln, dann kommen sie und schließen Ihnen
auf«, rief die Dame an der Rezeption freundlich hinter mir her,
als ich auf die Treppe zuging.
    Ich folgte dem Rat, und eine kleine dunkelhaarige Schwester
mit einem runden, freundlichen Gesicht und großen blauen
Augen zeigte mir den Weg zu Kathrine Haugane, während sie
fragte:
    »Ein Verwandter?«
»Nein, ein Bekannter – von ihrem Sohn.«
»Von Birger?«
»Ja, kennen Sie ihn?«
»Nein, aber mein Bruder ging mit ihm in eine Klasse, in der
    Grundschule«, sagte sie mit einem plötzlichen Anflug von
Wehmut, wie um zu unterstreichen, wie lange das her war.
»Sie waren natürlich älter als Sie.«
Ihr Gesicht wurde wieder rund. »Ja, das waren sie allerdings.
Da sind wir.«
Kathrine Haugane hatte schon Besuch. Neben ihrem Bett, mit
einem Strickzeug in der Hand und einer aufgeschlagenen
Wochenzeitschrift neben sich, saß eine Frau in den Vierzigern,
mit schon ergrautem Haar und einem Gesicht, in dem das Leben
viel zu früh seine Narben hinterlassen hatte.
»Hier ist Besuch«, sagte meine Begleiterin mit einem munteren Lächeln.
Die Frau im Bett klimperte kaum merklich mit den Lidern. Die
andere stand erstaunt auf. »Oh?«
Ich lächelte freundlich. »Ich bin …«, ich zögerte einen Augenblick, »Veum aus Bergen. Varg Veum. Ich bin ein Bekannter
von Birger.«
»Oh.« Sie streckte die Hand aus. »Ja, ich bin seine Schwester,
Laura Nielsen. Freut mich.«
»Danke, gleichfalls.«
Sie war mit wenig Geschmack gekleidet, trug eine rote Hemdbluse, einen braunen Rock und eine weiße Strickjacke, die
aussah, als sei sie ein Gewinn vom letzten Missionsbasar. Ihr
Gesicht war ungeschminkt, und sie trug keinen Schmuck. Ihre
Augen waren hellblau, fast farblos und hatten rote Ränder, als
litte sie an irgendeiner Augenkrankheit. Nichts an ihr erinnerte
an den Bruder, aber wenn ich den Notizen in meiner Jackentasche glauben konnte, dann war es auch keineswegs sicher, daß
sie denselben Vater hatten, eher im Gegenteil.
»Sie sind … Hat Birger Sie gebeten, uns zu besuchen?«
»Mmh, ich … Nur, wenn ich Zeit hätte. Und jetzt war ich
gerade auf dieser Seite der Stadt.«
»Er selbst ist jetzt zwei Jahre nicht hiergewesen«, sagte sie
und hatte den Mund so voller Speichel, daß sie schlucken
mußte.
»Ach nein?«
»Nicht, daß ich es nicht verstehen könnte! Von ihr hat man
nicht viel!« Sie nickte zur Mutter hin, und ich folgte ihrem
Blick.
Kathrine Haugane lag auf dem Rücken im Bett, die Decke bis
unter das Kinn gezogen, so daß man den Hals kaum sah. Ihr
Gesicht war mager und runzlig, die Nase, das Markanteste, sehr
scharf und spitz. Ihr kreideweißes Haar in der Mitte gescheitelt,
und die Haut war grau und dünn, als sei sie allzulange eingestaubt, ohne daß sich jemand die Mühe gemacht hätte, sie
abzuwischen. Wären die kaum bemerkbaren Bewegungen ihrer
Lippen nicht gewesen, hätte man denken können, sie sei tot.
»Ist sie schon lange so?«
»Im Sommer sind es acht Jahre. Völlig weg.«
»Aber ist sie denn nie wach?«
»Doch, doch, aber wenn sie spricht, dann ist es nur wirres
Gebrabbel. Von ihr kommt kein vernünftiges Wort mehr, nein.«
Sie setzte sich und

Weitere Kostenlose Bücher