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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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anderen Geschwister auch. Wir waren sechs, na ja,
eigentlich sieben, aber die eine, die ist gestorben, als sie noch
klein war.«
Ich versuchte mich wieder dem Thema zu nähern. »Und wer
hat euch aufgezogen? Birger Bjelland und Sie?«
»Na ja, er nannte sich damals ja noch nich’ Bjelland. Da war
er noch Birger Haugane … Na, was glauben Sie, wer das war?
Alle die Feinen und Cleveren, alle die Mutter und Vater hatten
und blondes Haar, deren Zähne alle noch heil waren und die
Gottes Segen hatten für ihr Schulbankbuch. Wir hatten noch
nich’ mal für fünf Kronen, verstehen Sie.«
»Aber ihr habt euch doch wohl gewehrt?«
»Ob wir uns gewehrt haben? Sie kamen mit Nasenbluten und
dreckigen Klamotten nach Hause, alle wie sie da waren. Aber
was glauben Sie, wer die Schuld bekam? Die oder wir? Wem
haben sie angedroht, sie ins Heim zu schicken, wenn wir uns
nicht zusammennähmen?«
»Es gab da einen, der hieß Roger …«
Plötzlich verstummte er. Sein Blick wanderte über den nächsten Steinwall und weiter zum Meer. Es schien, als nähmen seine
Augen die Farbe dessen an, was sie sahen, eine Mischung aus
Grau und Weiß, mit einem schwarzen, pulsierenden Herzen, das
plötzlich beinahe zu schnell schlug.
»Roger Hansen, stimmt’s?«
Er hielt in der Bewegung inne und zeigte in die Ferne. »Sehen
Sie … das Schiff da. Ich denke oft, wenn ich hier gehe, daß man
an Bord von so einem Schiff sein sollte, das weggesegelt ist und
nie wieder zurückkommt. Das Problem ist nur, daß die Erde
rund ist, und wenn du weit genug wegsegelst, dann landest du
trotzdem immer wieder da, wo du losgefahren bist.«
Ich stimmte ihm bei und fügte dann hinzu: »Und so ist das
auch mit unserem Leben. Wir glauben, daß die Zeit nur in eine
Richtung geht. Aber nicht nur die Senilen kehren in ihre eigene
Kindheit zurück. Jeder von uns muß das tun, in einigen Lebenssituationen, Einar.«
Er blieb stehen, in Gedanken versunken, als sei er ganz woanders, in einer ganz anderen Zeit als hier und jetzt.
»Er ist ertrunken, stimmt’s?« sagte ich leise.
»Was …« Er drehte sich abrupt zu mir um. »Warum sind Sie
hergekommen, Veum? Wer schickt Sie? Was wollen Sie?«
»Haben Sie Kinder, Einar?«
»Ob ich …« Sein Blick begann wieder zu flackern. Er sah
nach unten, wie um etwas zu finden, auf das er ihn stützen
konnte.
»Zwei Mädchen und einen Jungen. Zwei Ehen. Zu dem Jungen hab ich noch Kontakt. Die Mädchen darf ich nicht sehen.
Nicht bevor ich – ganz …«
»Dann werd ich Ihnen etwas von Ihrem Kindheitsfreund
erzählen und von der Art von Geschäften, hinter denen er
meiner Meinung nach da oben in Bergen steckt.«
Und dann erzählte ich ihm von den jungen Mädchen im Jimmy und den Tätigkeiten, zu denen sie herangezogen wurden. Ich
trug vielleicht etwas dick auf, besonders wenn es darum ging,
wie sicher ich war, daß Birger Bjelland der Kopf hinter dem
Ganzen war, aber es wirkte. Je mehr ich erzählte, desto fester
und fester wurde sein Blick und das Gesicht sah auf eine Weise
markanter, fast ausgehungert aus. »Es hätte eines Ihrer Kinder
sein können, Einar, es hätte meins sein können.«
Er wandte dem Meer den Rücken zu und sah ins Land hinein,
als sei dort hinten, in dem norwegischen Grundgestein, mehr
Hoffnung zu finden. »Ich glaube, wir sollten jetzt umkehren.«
Wir gingen wieder zurück.
»Wer hat Ihnen von Roger erzählt?«
»Kathrine Haugane.«
Er warf mir einen schnellen Blick zu, wie um zu sehen, ob ich
mich über ihn lustig machte.
»Auf ihre Art.« Ich versuchte, ihren Tonfall nachzuahmen:
»Birger! Tu das nicht! Roger! O nein …«
»Hat sie …« Er machte große Augen. »Sie hat es auch gesehen!«
»Was gesehen, Einar?«
Er zögerte noch ein paar Sekunden. Dann kamen die Worte,
langsam zuerst, als müßte er das Ganze rekonstruieren, dann
immer schneller, als er sich warmgeredet hatte. »Wir waren
sieben Jahre alt, gingen in die erste Klasse. Ich kam zu Birger
nach Hause, um mit ihm zu spielen. Aber es war keiner da.
Dann ging ich runter zum Mosvatten, da haben wir oft gespielt.
Es war Januar, und auf dem Wasser lag Eis. Plötzlich sah ich die
beiden, ihn und Roger, weit draußen auf dem See, und plötzlich
passierte etwas. Ich glaube, sie fingen an, sich zu streiten.
Jedenfalls schubste Birger Roger so doll, daß er taumelte, so,
nach vorne, und dann … Dann brach das Eis, und er ging unter.«
Er schluckte schwer. Aber diesmal half ich ihm nicht weiter.
Dies war eine

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