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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Geschichte, mit der er selbst zurechtkommen
mußte, vorläufig.
»Ich … Roger tauchte wieder auf, fuchtelte mit den Armen,
aber Birger, er – er drehte sich nur um und lief weg. Zuerst
glaubte ich, er wollte vielleicht einen von diesen Rettungshaken
holen, die am Ufer standen, aber dann … Er verschwand
einfach, lief nach Hause, glaube ich. Und das tat Roger auch.
Verschwand, meine ich. Er – er tauchte nicht wieder auf.« Dann
sah er mir in die Augen, mit einem Ausdruck, als bitte er um
Vergebung. »Wir waren so klein, das müssen Sie verstehen! Es
ging so schnell. Es war in einer Sekunde passiert. In der nächsten war alles wieder ruhig. Nur ein Riß im Eis. Als wäre nichts
…«
»Und Sie – haben Sie auch nichts gesagt?«
»Nein, ich … Als er gesucht wurde, später an dem Tag, waren
da andere, die ihn auf dem Weg runter zum See gesehen hatten,
und als die Polizei den Riß fand … Sie haben ihn schnell
gefunden. Und hinterher wurden auch nicht viele Fragen
gestellt. Es war ja nur ein Kind! Ein gewöhnlicher Unfall!«
Nachdenklich fügte er hinzu: »Aber daß Frau Haugane es auch
… Warum, um Himmels willen, meinen Sie, hat sie nichts
getan?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wer kann darüber urteilen, so
viele Jahre später? Sie hatte es am eigenen Leib erfahren, wie es
war, ausgestoßen und getriezt zu werden. Vielleicht erkannte sie
ihre eigenen Plagegeister wieder in denen, die ihren Sohn
plagten. Denn Roger war doch einer von denen, die ihn ärgerten?«
»Einer der Schlimmsten. Das steht jedenfalls fest.«
Ich sah ihn von der Seite an. »Und das haben Sie mit sich
herumgetragen, die ganzen Jahre?«
Der Schmerz in seinem Gesicht war sichtbar. »Nicht nur das
…«
»Nicht nur … Gibt es noch mehr? Was mit Birger zu tun hat?«
»Aber das ist nur eine Theorie. Aber ist es nicht so, daß das
erste Mal das schlimmste ist?«
»Meinen Sie, daß er noch öfter …?«
In der Ferne sahen wir wie ein Schulgebäude auf einer Bergspitze die Anstalt liegen, in die er zurückging.
»Es stand einiges darüber in den Zeitungen, als es passierte,
aber es wurde nie ein ›Fall‹ daraus.«
»Ja?«
»Das war in dem Jahr, als er beim Militär war. In Evjemoen.
Ein Soldat wurde getötet bei einem Schießunfall, oder wie sagt
man, wenn der Gewehrlauf mit Schnee verstopft ist, so daß das
ganze Gewehr explodiert.«
»Und dann?«
»Na ja, weiter nichts, als daß ganz schön viel zusammenkommen muß, bevor so was passiert. Aber der, der getötet wurde,
war auch einer von den Plagegeistern aus der Schulzeit. Da …«
Er öffnete die linke Hand und zeigte mir eine schräge Narbe in
der Handfläche. »Ich hab noch immer die Narben von seinem
Fahrtenmesser! Und Birger war in der gleichen Kompanie wie
er.«
»Sie meinen, daß er den Lauf zugestopft hat?«
Er nickte. »Vielleicht.«
»Wie hieß dieser Soldat?«
»Ragn … Ragnar Hillevåg.«
»Und wann war das ungefähr?«
»Sie finden das in der Zeitung, aber – ich wurde 1964 eingezogen. Ich glaube, es war im Jahr drauf.«
»Aber das sind alles nur Vermutungen, oder? Wurde später nie
mehr darüber gesprochen?«
»Nee, nur daß ich viele Jahre später, in einer Bierbar unten in
der Stadt, mit einem von denen ins Gespräch kam, die zu der
Zeit auch im Lager waren. Und der erzählte, daß unter allen
Soldaten aus Stavanger während der ganzen Grundausbildung
eine ziemlich gereizte Stimmung geherrscht hätte, eben weil
dieser Hillevåg die Stimmung von Anfang an aufgeheizt hatte.«
»Auch mit anderen als Birger?«
»Ja, wohl auch mit anderen, aber … Nur Birger hatte schon
mal jemanden umgebracht! Ich meine … Und ich habe es
gesehen!«
Wir waren jetzt angekommen. Er sah zu den Lichtern im
Tagesraum hin, als bedauerte er den ganzen Spaziergang und als
sei das einzige, auf das er sich freute, sich vor den Fernseher zu
setzen und alles zu vergessen.
»Sie brauchen diese Last nicht mehr allein zu tragen, Einar«,
sagte ich tröstend. »Wie Sie selbst gesagt haben, ihr wart noch
Kinder. Kathrine Haugane hätte es besser wissen müssen. Aber
was tut man nicht für seine Kinder?«
Er nickte. »Kinder sind für uns die Schrift an der Wand,
Veum.«
Ich zuckte innerlich zusammen. »Die Schrift an … Was meinen Sie damit? Die Schrift an der Wand ist doch ein Zeichen,
eine Warnung!«
»Und genau das sind unsere Kinder. Wenn es mit ihnen
schiefgeht, dann geht es mit uns auch schief. Und ich sage nicht,
daß wir die Schuld haben, wenn es

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