Die Schrift in Flammen
wurden plötzlich Erinnerungen lebendig. Mutter hatte ihn, den kleinen Jungen, zum ersten Mal in Klausenburg zu ihr mitgebracht. Selbst jetzt, da er daran zurückdachte, spürte er den muffigen, schwülen Geruch, der ihn beim Eintreten in ihr Zimmer gleich überfallen hatte. Tante Lizinka saß in einem oben weit ausladenden Ohrensessel, kehrte ihren Rücken dem stets geschlossenen Fenster zu, von dem sie auch noch zwei gläserne Paravents trennten. Obwohl immer kerngesund, fürchtete sie sich sehr, sie könnte sich eine Erkältung holen. Zahllose Shawls, Decken und Tücher bedeckten sie, auf dem Kopf trug sie eine schwarze Spitzenhaube, unter der ein kleines, gesticktes Kissen auf ihre Stirn gebunden war, und auch unter ihrem Kinn steckte ein dicker Strauß von Bändern. Man sah so von ihrem schmalen Gesicht kaum etwas, außer den blitzenden schwarzen Augen, der scharfen Adlernase und dem dünnen, farblosen Mund, auf dem die Falten in der Mitte sternförmig zusammenliefen. Der kleine Junge erschrak ein wenig vor diesem zusammengeschrumpften Hexenwesen, das unter den vielen Tüchern gar keinen Leib, nur das schmale Gesicht und die gebogene Nase zu haben schien. So hatte er sich Dorka Tóti im Kindermärchen vorgestellt. Doch Mutter schob ihn nach vorne, er solle Tante Lizinka schön die Hand küssen, sagte sie, und er küsste mit etwas Ekel die winzige, verdorrte und nach Kampfer riechende Hand. Doch es kam schlimmer. Die kleine Hand mit den krummen Fingern ergriff ihn jäh. Mit einer Kraft, die ihr niemand zugetraut hätte, zog ihn die Alte zu sich heran, hinein unter die vielen Tücher, und sie drückte einen großen, nassen Kuss auf die Stirn des Buben. Auch hernach, nachdem sie ihn entlassen hatte, spürte er in der Mitte der Stirn das kalte Trocknen jenes Schmatzes, doch als wohlerzogener kleiner Junge wagte er nicht, ihn abzuwischen.
All dies meldete sich beim Anblick der alten Frau blitzschnell inseiner Erinnerung. Auch manches andere fiel ihm ein, was Tante Lizinka selber erzählt oder er von Péter Abády, seinem Großvater, vernommen hatte, der Lizinkas Vetter war. Eine der besonders lustigen Geschichten, deren er sich entsann, entlockte Bálint selbst jetzt noch ein Lächeln.
Zur Zeit des Freiheitskriegs – wer würde das heute glauben? – war Frau Sarmasághy, Lizinka Kendy, eine junge Frauensperson. Und da sie in ihren Mann, Mihály Sarmasághy, sehr verliebt war, folgte sie mit der Kutsche überall den Armeen. Denn ihr Gatte diente natürlich in den Reihen der Honvéd und war natürlich Major in der Armee Görgeys (alle standen damals im Range eines Majors). Auf diese Weise fehlte sie auch in Világos nicht. Als sie, die begeisterte Patriotin, die Kunde vernahm, dass Görgey kapituliert hatte, lief sie zum Schloss Bohus, rannte die Tür zum Großen Saal ein, wo sich die ungarischen und russischen Offiziere tummelten, eilte geradewegs auf Görgey zu und schleuderte ihm in ihrem scharfen, schrillen Ton ins Gesicht: »Herr Gouverneur, Sie sind ein Verräter!«
Eine so wagemutige kleine Frauensperson war sie schon immer gewesen. Und hatte dazu eine böse Zunge. Da sie Kossuth nicht mochte, erzählte sie jedes Mal, wenn sein Name erwähnt wurde, von ihrer Erfahrung mit ihm. Es geschah in Debrecen. Die Nachricht verbreitete sich, dass die Russen im Anmarsch seien. Alle waren höchst verzagt. In dieser Lage hielt Kossuth eine Rede vor der Nationalversammlung, um die Mutlosen aufzurütteln. Laut Tante Lizinka sagte er: »Wir brauchen uns nicht zu fürchten, wo doch Mihály Sarmasághy mit dreißigtausend dreinschlagenden Dragonern demnächst hier anlangen wird!« Vielleicht drückte er sich wegen des Stabreims so aus. Jubelrufe erschallten, und doch saß Sarmasághy ganz allein oben auf der Galerie und hatte niemanden bei sich als seine klitzekleine Frau. Deren Energie, das allerdings traf zu, kam womöglich dreißigtausend Dragonern gleich.
Sie war es, die nach der Revolution in den vielen verwickelten Angelegenheiten des Bergwerks, die ihren Schwiegervater beinahe zu Fall gebracht hätten, irgendwie Ordnung schuf. Prozesse führte sie selber. Sie brachte die Fronablöse durch, rettete ihren Mann vor derGefangenschaft in Kufstein und lernte alle Gesetze, die Approbata und die Compilata so gut wie das kaiserliche Patent, die Bergwerkregelung und die Verordnung, und trat als Anwältin von Vásárhely bis Wien auf.
Jetzt, da die Kutsche der alten Frau an ihm vorbeizog, überfielen ihn alle diese
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