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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Finger. Andrés Schmerz schien übermächtig. Wer hätte dagegen angehen wollen? Ich ging nach Hause, war hin- und hergerissen zwischen Empörung und Wut, fühlte mich beschämt und gedemütigt zugleich, durch Josés Tod und Djellouls Martyrium doppelt belastet. So war es schon immer, versuchte ich mich vor mir selbst zu rechtfertigen – wenn der eigene Schmerz sinnlos erscheint, sucht man nach einem Schuldigen, und an jenem Morgen gab es keinen besseren Sündenbock am Unglücksort als Djelloul.
    Djelloul wurde verhaftet und in Handschellen abgeführt. Gerüchte besagten, er sei geständig, und der Mord habe nichts mit den Unruhen zu tun, die das Land erschütterten. Dennoch! Der Tod hatte zugeschlagen, und kein Mensch hätte schwören wollen, dass er nicht doch einer geheimen Logik folgte. Die Grundbesitzer verstärkten ihre Milizen, und von Zeit zu Zeit gellten zwischen zwei Schakalrufen ein paar Schüsse durch die Nacht. Am nächsten Morgen hieß es, man habe das Eindringen verdächtiger Elemente verhindert, unerwünschte Personen wie Wild aufgescheucht, kriminelle Brandstiftung unterbunden. Als ich eines Morgens nach Lourmel unterwegs war, sah ich zwei bewaffnete Landwirte in höchster Erregung am Straßenrandstehen. Zu ihren Füßen der blutüberströmte Leichnam eines jungen Muslims in Lumpen. Wie eine Jagdtrophäe lag er vor ihnen, und daneben wie zum Beweis eine alte Flinte.
    Einige Wochen später tauchte ein schmächtiger, kränkelnder Junge in der Apotheke auf. Er bat mich, ihm auf die Straße zu folgen. Auf dem Gehweg gegenüber wartete, in Tränen aufgelöst, eine Frau, umringt von einer ratlosen Kinderschar.
    »Djellouls Mutter«, klärte der Junge mich auf.
    Sie stürzte auf mich zu und fiel vor mir nieder. Ich verstand nichts von dem, was sie mir zu erzählen versuchte. Ihre Worte gingen in ihrem Wehklagen unter, und ihr wildes Gestikulieren verwirrte mich noch mehr. Ich brachte sie in die Apotheke, um sie zu beschwichtigen und zu versuchen, ihr Gestammel zu verstehen. Sie sprach sehr schnell, warf alles durcheinander, brachte keinen Satz zu Ende, ohne sich wie toll zu gebärden. Ihre Wangen waren von Schrammen durchzogen, sie hatte sich mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzt, Zeichen allergrößten Unglücks. Am Ende ihrer Kräfte nahm sie schließlich das Wasser an, das ich ihr anbot, und ließ sich auf die Bank fallen. Sie erzählte mir von den Schicksalsschlägen, die ihre Familie getroffen hatten, der Krankheit ihres Mannes, dem man beide Arme amputiert hatte, ihren Pilgerreisen zu sämtlichen Marabouts der Region, bevor sie sich von neuem vor mir niederwarf und mich anflehte, Djelloul zu retten. »Er kann doch nichts dafür. Der ganze Douar wird es euch bestätigen. Djelloul war in der Nacht, als der Rumi getötet wurde, bei uns. Ich schwöre es. Ich war beim Bürgermeister, bei der Polizei, bei allen Kadis; kein Mensch wollte mich anhören. Du bist unsere letzte Hoffnung. Du verstehst dich gut mit Monsieur André. Auf dich wird er hören. Djelloul ist kein Mörder. Sein Vater hatte an dem Abend eine Krise, und da habe ich meinen Neffen geschickt, Djelloul zu holen. Das ist doch nicht gerecht. Sie werden ihm völlig grundlos den Kopf abschneiden.« Der schmächtige Junge war besagter Neffe. Er bestätigte mir, das sei die reine Wahrheit,Djelloul habe außerdem nie ein Messer dabei und konnte José immer gut leiden.
    Ich sah auf Anhieb keine Möglichkeit, ihnen zu helfen, aber ich versprach, ihre Erklärungen getreulich André zu übermitteln. Als sie wieder weg waren, verlor ich jede Zuversicht. Ich wusste, der Gerichtsbeschluss war unabänderlich, und André würde ohnehin nicht auf mich hören. Seit dem Tod von José war er unausstehlich geworden und schikanierte die Araber in den Feldern wegen jeder Lappalie. Ich verbrachte eine unruhige Nacht voll grässlicher Alpträume und musste mehrere Male das Licht auf meinem Nachttisch anknipsen. Schwindel und Unwohlsein befielen mich, wenn ich an das furchtbare Elend dieser halb verrückten Frau und ihrer Kinder dachte. Ihr verworrenes Wehgeschrei gellte mir durch den Kopf. Am nächsten Morgen hatte ich nicht die Kraft, zur Arbeit in die Apotheke zu gehen. Ich wog Pro und Kontra ab, und letztlich sprach mehr dagegen. Wie sollte ich mich bei einem hasserfüllten André für Djelloul verwenden? André war vor erbitterter Rachsucht und brutalem Vergeltungsdrang nicht wiederzuerkennen. Er würde in mir letztendlich auch nur den Muslim sehen, der

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