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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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herumgeturnt.«
    In seinen Augen schimmerten Tränen.
    »Nimm dir eine Frau, Younes. Nur die Liebe ist fähig, uns für die Tiefschläge des Lebens zu entschädigen. Und vergiss nicht – wenn eine Frau dich liebt, dann ist kein Stern zu hoch für dich, dann reicht kein Gott an dich heran.«
    Ich spürte, wie die Kälte, die sich in ihm ausbreitete, durch seine fröstelnde Hand in mein Handgelenk kroch und meinen ganzen Körper befiel. Mein Onkel sprach lange zu mir, und jeder seiner Sätze entfernte ihn weiter von unserer Welt. Er war dabei, uns zu verlassen. Germaine weinte, sie saß aufgelöst am Bettrand.Ihre Schluchzer übertönten die Worte meines Onkels. Es war eine seltsame Nacht, unwirklich und zugleich sehr ergreifend. Draußen heulte ein Schakal, wie ich noch nie ein Tier hatte heulen hören. Die Finger meines Onkels pressten mein Handgelenk, hinterließen einen violetten Abdruck, schnürten mir regelrecht die Blutgefäße ab; mein Arm war schon ganz taub. Erst als ich sah, wie Germaine sich bekreuzigte und ihrem Mann die Augen schloss, fand ich mich darein, dass es einem geliebten Menschen zusteht, zu verlöschen wie die Sonne bei Anbruch der Nacht, wie eine Kerze im Windhauch. Und dass das Leid, das sein Verschwinden uns zufügt, selbst Teil des Lebens ist.
    Mein Onkel sollte nicht miterleben, wie sein Land zu den Waffen griff. Das Schicksal hatte ihn dessen nicht für würdig erachtet. Wie sonst sollte man es sich erklären, dass er fünf Monate vor dem so sehnlich erwarteten und so oft verschobenen flammenden Ausbruch der Libération , des algerischen Befreiungskriegs, seinen letzten Atemzug tat? Was an Allerheiligen 1954 geschah, kam für uns alle völlig unerwartet. Der Cafébesitzer schimpfte wie ein Rohrspatz über seiner auf dem Tresen aufgeschlagenen Zeitung. Der Unabhängigkeitskrieg hatte soeben begonnen, doch die paar in der Mitidja-Ebene abgefackelten Gehöfte würden der breiten Masse kaum die Nachtruhe verderben, höchstens für einen Anflug von Unmut sorgen, der auf Gassen und Plätzen schnell von einem Scherz verdrängt würde. Dabei hatte es in Mostaganem sogar Tote gegeben: Gendarmen, die von bewaffneten Angreifern überrascht worden waren. Na und, sagte man. Die Straße fordert nicht weniger Opfer. Und erst die Unterwelt … Denn niemand ahnte, dass es diesmal blutiger Ernst und ein Rückzieher undenkbar war. Eine Handvoll Revolutionäre hatte beschlossen, zur Tat zu schreiten und ein Volk wachzurütteln, das nach über einem Jahrhundert Kolonisation völlig ermattet war. Dazu schwer geprüft durch die sporadischen Aufstände vereinzelter Stämme, die im Laufe mehrererGenerationen erfolgten und von der allmächtigen, geradezu mythischen Kolonialarmee mit ein paar Schlachten, Strafexpeditionen oder Jahren der Zermürbung jedes Mal unweigerlich niedergeschlagen wurden. Selbst die berühmte OS , die »Organisation Secrète«, die gegen Ende der 1940 er Jahre von sich reden machte, hatte nur wenige militante Muslime auf der Suche nach handfesten Auseinandersetzungen auf ihre Seite gezogen. Wäre das, was Schlag null Uhr in der ersten Novembernacht des Jahres 1954 allenthalben im algerischen Norden aufflackerte, auch wieder nur ein Strohfeuer, eine flüchtige Flamme im müden Hauch der autochthonen Bevölkerungsteile, die ihrer Lage längst überdrüssig, aufgrund ihrer andauernden Zerrissenheit aber auch unfähig waren, ein gemeinsames Projekt in Angriff zu nehmen? … Diesmal sollte es anders kommen. Im ganzen Land wurden »Akte von Vandalismus« gemeldet, erst sporadisch, dann immer häufiger auftretend, immer explosiver, von manchmal unfassbarer Verwegenheit. In den Zeitungen war von »Terroristen«, »Rebellen«, »Gesetzlosen« die Rede. Hier und da kam es zu Scharmützeln, vor allem in den Bergen, mitunter plünderte man die toten Soldaten aus, nahm ihnen Gepäck und Waffen weg. In Algier wurde ein Polizeikommissariat per Handstreich dem Erdboden gleichgemacht, man legte an jeder Straßenecke Polizisten und Beamte um, schnitt Verrätern die Kehle durch. Aus der Kabylei wurden verdächtige Aktivitäten vermeldet, es wurden Kleingruppen in Drillich und mit altertümlichen Knarren ausgemacht, die den Gendarmen auflauerten und dann in der Wildnis untertauchten. Im Aurès-Gebirge war gar von Schwadronen und ihren Obersten die Rede, von einer ganzen Armee ungreifbarer Guerilleros und von verbotenen Zonen. Unweit unseres Dorfs, im Fella oucène, verließen die Männer scharenweise die

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