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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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schlafende Ungeheuer aus prähistorischer Zeit. Jaime ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen. Er nickte bei jedem Anhaltspunkt, der etwas in ihm zum Schwingen brachte.
    Kein Gott hätte seine Schöpfung mit größerer Inbrunst betrachtet als er.
    »Sieh doch nur, Jonas … Ist das nicht ein unglaubliches Panorama?«
    Sein Glas zitterte am ausgestreckten Arm.
    Langsam wandte er sich mir zu und deutete ein Lächeln an.
    »Einen schöneren Anblick gibt es nirgends auf der Welt.«
    Da ich nichts erwiderte, nickte er nur und ließ seinen Blick erneut über die Reben schweifen, die zum Horizont strebten.
    »Wenn ich hier oben stehe und diese Aussicht genieße«, sagte er dann, »denke ich oft an all jene, die lange vor mir schon dasselbe taten, und ich frage mich, was sie wohl vor Augen hatten. Ich versuche, mir dieses Gebiet im Wandel der Zeiten vorzustellen, ich versetze mich an die Stelle des Berbernomaden, des phönizischen Abenteurers, des christlichen Missionars, des römischen Zenturios, des plündernden Vandalen, des muslimischen Eroberers – nun, an die Stelle all jener, die das Schicksal hier entlanggeführt hat und die hier, auf dieser Anhöhe, innegehalten haben, genau an der Stelle, wo ich heute stehe …«
    Er sah wieder zu mir, suchte meinen Blick.
    »Was haben sie wohl von hier aus gesehen, in all diesen verschiedenen Epochen?«, fragte er mich. »Nichts … Es gab nichts zu sehen, bis auf eine wilde, unbewohnte Ebene, auf der sich Horden von Ratten und Reptilien tummelten, ein paar von wilder Vegetation überwucherte Erdhügel, vielleicht noch einen Teich, der inzwischen verschwunden ist, oder, was wenig wahrscheinlich ist, einen Pfad, der unzählige Gefahren barg …«
    Sein Arm fegte wütend über die Landschaft, und einige Tropfen Saft funkelten in der Luft. Er trat ein paar Schritte zurück, bis er auf meiner Höhe stand, und begann zu erzählen:
    »Alsmein Urgroßvater sein Auge auf dieses gottverlassene Stück Erde warf, war ihm klar, er würde nicht mehr erleben, wie das hier florierte … Ich habe im Haus Fotos aus dieser Zeit. Es gab meilenweit im Umkreis keine noch so armselige Hütte, keinen Baum, kein einziges sonnengebleichtes Tierskelett. Mein Urgroßvater ist trotzdem nicht weitergezogen. Er hat die Ärmel hochgekrempelt und mit seinen zehn Fingern das Werkzeug hergestellt, das er brauchte, um zu roden, zu hacken, die Scholle umzubrechen, bis seine Hände nicht einmal mehr dazu taugten, eine Scheibe Brot abzuschneiden … Tagsüber war es Fronarbeit, abends Straflager, und sommers wie winters die Hölle. Und kein einziges Mal haben die Meinen die Arme sinken lassen, sie haben niemals aufgegeben. Manche sind an der übermenschlichen Anstrengung gestorben, andere wurden von Krankheiten dahingerafft, aber keiner hat auch nur eine Sekunde am Sinn dessen gezweifelt, was er da zuwege brachte. Und dank meiner Familie, Jonas, dank ihrer Opferbereitschaft und Zuversicht, hat sich diese Wildnis zähmen lassen. Hat sich von einer Generation zur nächsten in weitere Felder und Plantagen verwandelt. Alle Bäume, die du ringsum siehst, können dir ein ganzes Kapitel aus der Geschichte meiner Eltern erzählen. Jede Orange, die du presst, enthält ein wenig von ihrem Schweiß, jeder Nektar, den du trinkst, schmeckt nach dem Enthusiasmus, mit dem sie zu Werke gingen.«
    Mit theatralischer Gebärde wies er auf seinen Hof:
    »Dieses Gebäude da, mein Bollwerk, dieses stattliche weiße Haus, in dem ich einst das Licht der Welt erblickt habe und als Kind herumgetollt bin, nun, das hat mein Vater eigenhändig errichtet, wie ein Denkmal zum Ruhme der Seinen … Dieses Land hat uns alles zu verdanken … Wir haben Straßen gebaut, haben Eisenbahnschienen bis an die Pforten der Sahara verlegt, haben Brücken über Wasserläufe errichtet und Städte gebaut, von denen eine schöner ist als die andere, Dörfer, die wie ein Traum mitten in der Macchia aufleuchten … Wir haben aus einer jahrtausendealten Wüstenei ein phantastisches, blühendes, aufstre bendesLand gemacht, und aus armseligem Felsgestein einen prächtigen Garten Eden … Da wollt ihr uns glauben machen, wir hätten uns für nichts und wieder nichts halb zu Tode geschuftet?«
    Die letzten Worte hatte er fast herausgespuckt, und ich bekam ein paar Speicheltropfen ab.
    Sein Blick verdüsterte sich, während er mit dem Zeigefinger vor meiner Nase herumfuchtelte:
    »Nein, Jonas, so läuft das nicht, da bin ich ganz und gar nicht einverstanden. Wir

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