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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Fingernägel waren abgesplittert. Er hatte mehrere Messerstiche im Rücken, manche deutlich erkennbar, denn sein Hemd war völlig zerrissen, sein Rücken stellenweise entblößt; die Blutlache erstreckte sich über die Türschwelle in den Hof, klumpig und dick. Ich musste über die Leiche hinwegsteigen, um ins Innere zu gelangen. Das Tageslicht beleuchtete Josés Gesicht von der Seite; es war, als horche er in den Boden hinein, wie wir es als Kinder immer machten, als wir das Ohr an die Schienen pressten, um zu hören, ob ein Zug kam. Sein glasiger Blick erinnerte an den eines Opiumrauchers, zur Welt hin geöffnet, ohne sie wahrzunehmen.
    »Er sagte immer, er sei die heilige Scheiße, über die der Herrgott gelaufen sei«, stöhnte André, der am Boden saß, den Rücken an den Tresen gelehnt.
    Man sah ihn kaum im Halbdunkel der Bar.
    Er weinte.
    »Ich wollte immer, dass er es sich gutgehen lässt, wie jeder Cousin von Dédé Jiménez Sosa, und immer, wenn ich ihm ein Festmahl bot, begnügte er sich mit ein paar Krumen. Er hatte Angst, ich könnte ihn für einen Schmarotzer halten.«
    Simon war auch da, ebenso fassungslos. Er stand an der Theke, die Ellenbogen aufgestützt, den Kopf in den Händen vergraben. Der Polizist Bruno saß auf einem Stuhl hinten im Raum und versuchte, den Schock zu verwinden. Zwei weitere Männer lehnten verstört am Billardtisch.
    »Warum er?«, klagte André voller Schmerz. »Das war doch José, verflucht! Der hätte jedem, der ihn darum gebeten hätte, sein letztes Hemd gegeben.«
    »Das ist nicht gerecht«, sagte jemand hinter mir.
    Der Bürgermeister kam angelaufen. Als er José erkannte, schlug er sich mit der Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Immer mehr Fahrzeuge fuhren in den Hof ein. Ich hörte das Schlagen von Autotüren. »Was ist passiert?«, fragte man. Niemand antwortete.Innerhalb weniger Minuten war das ganze Dorf angerückt. Man legte eine Decke über Josés Leiche. Draußen begann eine Frau zu schreien. Es war seine Mutter. Angehörige hielten sie davon ab, sich dem Körper ihres Sohnes zu nähern. Gedämpfte Aufregung, als André sich erhob und in den Hof herauskam. Er war nahezu grün vor Wut, und seine Augen sprühten vor Hass.
    »Wo ist Djelloul?«, tobte er. »Wo ist dieser Kretin von Djelloul?«
    Djelloul trottete durch die Menschenmenge auf seinen Arbeitgeber zu. Wie betäubt stand er vor ihm, wusste nicht, wohin mit den Händen.
    »Was hast du getrieben, während man José kaltgemacht hat?«
    Djelloul starrte betroffen auf seine Schuhspitzen. André hob mit der Reitpeitsche sein Kinn an.
    »Wo hast du gesteckt, du Mistkerl? Ich hatte dir doch gesagt, du sollst die Snackbar auf keinen Fall verlassen.«
    »Mein Vater war krank.«
    »Das war er schon immer. Warum hast du mir das nicht gesagt, dass du in dein Kaff zurückkehrst? Dann wäre José nicht gekommen, um dich zu vertreten, und zur Stunde wäre er noch am Leben … Und außerdem, wie kommt es, dass das Unglück ausgerechnet in der Nacht passiert, in der du nicht da bist, na?«
    Djelloul senkte den Kopf, und André zwang ihn erneut mit der Peitsche, das Kinn zu heben:
    »Sieh mir in die Augen, wenn ich mit dir rede … Wer ist dieser Feigling, der José abgestochen hat? Du kennst den doch, stimmt’s? Du steckst mit ihm unter einer Decke. Deshalb bist du in dein Kaff zurück. Um José deinem Komplizen ans Messer zu liefern, stimmt’s? Um dir ein Alibi zu besorgen, du Hundesohn … Sieh mir in die Augen, sag ich. Vielleicht bist du’s ja auch selber gewesen. Wenn man bedenkt, wie lange du schon einen Groll gegen uns hast. Irre ich mich etwa, du Dreckskerl? Warum blickst du zu Boden? Da ist José!«, schrie er und zeigte aufdie Leiche am Eingang zur Bar. »Das warst bestimmt du, der ihn umgebracht hat. José hätte sich niemals von einem Fremden überwältigen lassen. Nur jemand, dem er vertraute, konnte ihm so nahe kommen. Zeig deine Hände her.«
    André untersuchte Djellouls Hände, seine Kleidung, den ganzen Djelloul nach Spuren von Blut, und als er nichts fand, schlug er mit der Peitsche auf ihn ein.
    »Du hältst dich wohl für oberschlau? Du bringst José um, dann gehst du nach Hause, ziehst dich um und kommst wieder hierher. Ich lege meine Hand ins Feuer, dass es genauso war und nicht anders. Ich kenne dich doch!«
    André steigerte sich immer mehr in seine Wut hinein, blind vor Kummer stieß er Djelloul zu Boden und prügelte ihn grün und blau. Keiner der Umstehenden rührte einen

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