Die Schuld des Tages an die Nacht
sich mit dem Mörder aus seiner Religionsgemeinschaft solidarisiert. Hatte er mich nicht schon von sich gestoßen, als ich ihn auf dem Friedhof, bei Josés Beerdigung, trösten wollte? Hatte er nicht gemurrt, alle Araber seien feige, undankbare Hunde? Zweifelsfrei, um mich zu verletzen. Warum sonst hätte er derlei auf einem christlichen Friedhof gesagt, wo ich der einzige anwesende Muslim war? Doch nur, um mich empfindlich zu treffen …
Zwei Tage später wunderte ich mich über mich selbst, als ich meinen Wagen im großen Hof des Landguts von Jaime Jiménez Sosa parkte. André war nicht zu Hause. Ich fragte nach seinem Vater. Ein Dienstbote bat mich, im Auto zu warten, während er sich auf die Suche nach dem Hausherrn begab. Nach wenigen Minuten kam er wieder und geleitete mich auf den Hügel, von dem aus man die ganze Ebene überblickte. Jaime JiménezSosa kam von einem Ausritt zurück und übergab sein Pferd gerade dem Stallburschen. Er fixierte mich einen Augenblick, überrascht von meinem unerwarteten Auftauchen, dann gab er dem Pferd einen Klaps auf die Kruppe und marschierte auf mich zu:
»Was kann ich für dich tun, Jonas?«, schmetterte er schon von weitem: »Du trinkst keinen Wein, und wir haben ohnehin noch keine Lese.«
Ein Dienstbote kam herbeigeeilt, um ihm Tropenhelm und Reitgerte abzunehmen. Jaime scheuchte ihn einfach unverrichteter Dinge davon.
Er schritt an mir vorüber, ohne stehenzubleiben oder mir die Hand zu reichen.
Ich folgte ihm.
»Also, wo ist das Problem, Jonas?«
»Es ist ein bisschen kompliziert.«
»Nur heraus damit!«
»Sie machen es mir nicht leichter, wenn Sie so schnell gehen.«
Er verlangsamte seinen Schritt, schob eine Hand unter seinen Helm und blickte mich an:
»Ich höre …«
»Es ist wegen Djelloul.«
Er fuhr zusammen, spannte die Kiefer an. Dann nahm er seinen Helm ab und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn.
»Du enttäuschst mich, junger Mann«, sagte er. »Du bist aus anderem Holz geschnitzt, und da, wo du bist, bist du am richtigen Fleck.«
»Es gibt da sicherlich ein Missverständnis.«
»Ach ja? Was für eines?«
»Djelloul ist vielleicht völlig unschuldig.«
»Von wegen! Ich beschäftige seit Generationen Araber, und ich weiß, was das heißt. Das sind alles Nattern … Diese Schlange hat gestanden. Er ist verurteilt worden. Ich werde persönlich darüber wachen, dass sein Kopf rollt.«
Erkam auf mich zu, packte mich beim Ellenbogen und forderte mich auf, ein paar Schritte mit ihm zu gehen.
»Die Sache ist bitterernst, Jonas. Das ist kein vorübergehendes Aufbegehren, sondern ein echter Krieg. Das Land steht am Rand des Abgrunds, jetzt ist nicht der Moment, es jedermann recht machen zu wollen. Jetzt heißt es zuschlagen, gezielt zuschlagen, und den Richtigen treffen. Jede Nachsicht wäre fehl am Platz. Diese wahnwitzigen Mörder müssen ein für alle Mal verstehen, dass wir nicht nachgeben werden. Jeder Saukerl, der uns in die Hände fällt, muss für die anderen bezahlen …«
»Seine Familie war bei mir …«
»Jonas, mein armer Junge«, unterbrach er mich, »du weißt ja gar nicht, wovon du redest. Du bist doch ein wohlerzogener junger Mann, bist unbescholten und intelligent. Halte dich fern von diesen Gaunergeschichten. Das ist nicht deine Welt, das verwirrt dich nur.«
Er war gereizt, weil ich nicht lockerließ, erbost, sich auf die Ebene eines Domestiken herabbegeben zu müssen, der sich doch gefälligst mit seinem Los abzufinden hatte. Er nahm die Hand von meinem Ellenbogen, verzog unschlüssig das Gesicht, steckte sein Taschentuch wieder ein, dann bedeutete er mir mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen.
»Komm mal mit, Jonas …«
Er ging vor mir her, griff im Vorübergehen nach dem Glas Orangensaft, das ein aus dem Nichts aufgetauchter Diener ihm reichte. Jaime Jiménez Sosa war untersetzt und so stämmig wie ein Grenzstein, dennoch schien er plötzlich um einige Zentimeter gewachsen zu sein. Auf seinem Hemd, das sich im Wind blähte, breitete sich ein riesiger Schweißfleck aus. Mit Reithose und Tropenhelm stapfte er voran, als würde er Schritt für Schritt die Welt erobern.
Als wir den höchsten Punkt des Hügels erreicht hatten, baute er sich breitbeinig auf und beschrieb mit dem Arm einen weiten Bogen, das Saftglas gleichsam wie ein Zepter schwenkend. In der Ebene tief unten erstreckten sich die Weinfelder, so weit dasAuge reichte. Die Berge in der Ferne, auf denen ein feiner grauer Dunstschleier lag, wirkten wie
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