Die Schuld des Tages an die Nacht
Weiler, zogen allnächtlich ins unwegsame Gebirge, ließen sich zu Widerstandskämpfern ausbilden. Noch näher, nur wenige Kilometer Vogelflug entfernt, in Aïn Témouchent, kam es zu Attentaten mitten in der Innenstadt. Drei Buchstaben zogen sichquer über die Graffiti an den Wänden: FLN . Front de libération nationale – »Nationale Befreiungsfront«. Ein ganzes Programm. Mit eigenen Gesetzen, eigenen Richtlinien und dem wiederholten Aufruf zum Volksaufstand. Einer selbstverhängten nächtlichen Ausgangssperre. Eigenen Verboten. Eigenen Tribunalen. Eigenen Verwaltungsbezirken. Einem unentwirrbar labyrinthischen und höchst effizienten Netzwerk. Einer eigenen Armee. Einem geheimen Radiosender, der tagtäglich hinter verschlossenen Fensterläden den Aufstand propagierte … Wir in Río Salado lebten auf einem anderen Stern. Was draußen in der Welt vor sich ging, drang nur als fernes Echo, tausendfach gefiltert, zu uns durch. In den Augen der Araber, die in den Weinfeldern schufteten, lag zwar ein seltsam feuriger Glanz, doch an ihren Gewohnheiten änderte sich nichts. Im Morgengrauen waren sie schon bei der Arbeit und sahen erst bei Einbruch der Nacht wieder auf. Im Café wurde munter weiterpalavert, und der Anisette schmeckte wie eh und je. Selbst Polizist Bruno hielt es für überflüssig, mit entsicherter Pistole umherzustolzieren. Er meinte, das sei alles halb so wild, eine vorübergehende Erscheinung, bald wäre wieder alles wie gehabt. Wir mussten mehrere Monate warten, bis die »Rebellion« auch unsere Gemütsruhe erschütterte, zumindest am Rand. Unbekannte zündeten erst ein abgelegenes Gehöft an, dann legten sie dreimal Feuer an die Rebstöcke und sprengten am Ende eine Weinkellerei in die Luft. Das war zu viel. Jaime J. Sosa stellte eine eigene Miliz auf und errichtete einen Sicherheitsgürtel rings um seine Reben. Die Polizei versuchte, ihn zu beruhigen, indem sie ihm erklärte, sie habe die nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Umsonst. Bei Tage sah man die Grundbesitzer die Umgebung durchkämmen, das Jagdgewehr demonstrativ vorgestreckt; bei Nacht wurde nach allen Regeln militärischer Kunst patrouilliert, mit Losung und Warnschuss.
Außer ein paar Wildschweinen, die dem nervösen Abzugfinger einiger Milizionäre zum Opfer gefallen waren, wurde kein Verdächtiger gefasst.
Mitder Zeit ließ die Wachsamkeit wieder nach, und die Leute trauten sich von neuem nachts auf die Straße, ohne zu fürchten, behelligt zu werden.
Die darauffolgende Weinlese wurde ausgiebig gefeiert. Für den Festball wurden gleich drei Orchester auf einmal engagiert, und ganz Río tanzte bis zum Umfallen. Pépé Rucillio nutzte die schöne Jahreszeit, um sich mit einer Sängerin aus Nemours zu vermählen, die vierzig Jahre jünger war als er. Seine Erben protestierten am Anfang zwar heftig, doch da das Vermögen ihres Patriarchen sich jeder Schätzung entzog, schlugen sie sich die Bäuche voll und träumten von weiteren Gelagen. Im Verlauf der Hochzeitsfeierlichkeiten stand ich plötzlich vor Émilie. Sie stieg gerade aus dem Wagen ihres Mannes, mit ihrem Kind auf dem Arm; ich kam aus dem Festsaal, Germaine am Arm. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde Émilie blass um die Nase. Dann drehte sie sich gleich zu Simon um, der mir flüchtig zulächelte und alsbald seine Frau in die Festmenge schob. Ich kehrte zu Fuß nach Hause zurück – dass mein Wagen direkt neben dem meines Freundes stand, war mir entfallen.
Dann das Drama!
Niemand hatte damit gerechnet. Der Krieg ging ins zweite Jahr, und abgesehen von den bereits erwähnten Sabotageakten war in Río kein weiterer Zwischenfall zu beklagen. Die Leute gingen unbekümmert ihren Beschäftigungen nach, bis zu diesem Februarmorgen des Jahres 1956 . Eine bleierne Schwere erfasste das Dorf. Die Menschen waren wie versteinert. Sie blickten sich an, ohne einander zu sehen, vom Geschehen regelrecht überrollt. Sobald ich die Menschenmenge vor Andrés Snackbar sah, hatte ich verstanden.
Der Körper lag am Boden, auf der Schwelle zur Bar, die Beine im Hof, der Rumpf im Innenraum. Ein Schuh fehlte; er hatte ihn wohl verloren, als er sich gegen seinen Angreifer verteidigte oder fliehen wollte. Eine Schramme zog sich vom Fersenansatz bis zur Wade hin, von feinen Blutfäden durchzogen … José! … Er musste um die zwanzig Meter gekrochen sein,bevor er den Geist aufgab. Seine verzweifelte Kriechspur war im Staub gut sichtbar. Seine linke Hand hielt den Türflügel umklammert, die
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