Die Schuld des Tages an die Nacht
hat sich doch deutlich genug ausgedrückt, neulich nachts. Sie will nichts von dir wissen.«
»Das ist nicht dein Problem.«
»Da irrst du gewaltig, mein Junge. Émilie ist sehr wohl mein Problem. Wenn du jemals versuchen solltest, sie zu belästigen, dann reiß ich dir mit meinen eigenen Zähnen die Stimmbänder heraus.«
»Hat sie dir etwas über mich gesagt?«
»Sie braucht mir gar nichts zu sagen. Ich war dabei, als sie dich zum Teufel geschickt hat, das reicht mir.«
Von diesem Mann war also nichts zu erwarten.
Monatelang durchstreifte ich die verschiedenen Stadtteile Orans in der Hoffnung, irgendwann Émilie über den Weg zu laufen. Ich baute mich bei Unterrichtsschluss an den Schultoren auf, doch ich entdeckte weder Michel noch seine Mutter inmitten all der Schülereltern. Ich trieb mich auf den Märkten herum, in den Prisunic-Läden, den Parks und den Souks; nirgends eine Spur von ihr. Als ich schon fast verzweifeln wollte, auf den Tag genau ein Jahr nach Simons Tod, schien mir, als ich an einer Buchhandlung vorüberkam, ich hätte sie kurz hinter der Scheibe gesehen. Mir blieb fast das Herz stehen. Ich setzte mich ins Café gegenüber und begann hinter einer Säule versteckt zu warten. Bei Ladenschluss verließ Émilie die Buchhandlung und nahm an der Straßenecke einen Trolleybus. Ich traute mich nicht, mit ihr zusammen einzusteigen. Es war ein Samstag, und mir blieb nichts anderes übrig, als den ganzen endlosen Sonntag über Nägel zu kauen. Am Montag war ich in aller Frühe wieder zur Stelle, im Café gegenüber, hinter derselben Säule. Émilie tauchte gegen neun Uhr auf, in einem anthrazitgrauen Kostüm mit farblich abgestimmtem Kopftuch. Mir krampfte sich das Herz zusammen. Tausend Mal nahm ich meinen Mut zusammen, um zu ihr hinüberzugehen, und tausendMal erschien mir ein solches Unterfangen ungebührlich dreist.
Ich weiß nicht, wie oft ich vor der Buchhandlung auf und ab gegangen bin, um sie dabei zu beobachten, wie sie einen Kunden bediente, eine Trittleiter hochkletterte und ein Buch aus dem Regal nahm, an der Kasse zugange war oder Bücher wegräumte, ohne dass ich es je gewagt hätte, die Tür aufzustoßen und einzutreten. Allein das Wissen darum, dass sie wirklich da war, erfüllte mich mit einem vagen, aber deutlich spürbaren Glücksgefühl. Es genügte mir, sie auf Distanz zu erleben; ich fürchtete, sie könne sich auflösen wie eine Fata Morgana, wenn ich mich ihr zu nähern suchte. So ging das über einen Monat. Ich hatte die Apotheke völlig vernachlässigt, auch Germaine ganz ihrem Schicksal überlassen, vergaß sogar, sie anzurufen, und verbrachte meine Nächte in schäbigen Funduks, um Émilie tagaus tagein vom Café gegenüber beobachten zu können.
Und eines Abends, es war kurz vor Ladenschluss, verließ ich gleich einem Schlafwandler mein Versteck, überquerte die Straße und stieß zu meiner eigenen Verwunderung die gläserne Ladentür auf.
Es war kein Mensch in der Buchhandlung, auch kein Tageslicht mehr. Über den Büchertischen schwebte Stille. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, und ich glühte, als hätte ich hohes Fieber. Die Deckenleuchte über mir hatte die Form eines Fallbeils, das im nächsten Moment herabstürzen würde. Ein Zweifel durchzuckte mich: Was schickte ich mich da an zu tun? Welche Wunde würde ich wieder aufreißen? Ich presste die Kiefer zusammen, um den Zweifel zu erdrücken. Ich musste diesen Schritt jetzt tun. Ich ertrug es nicht länger, mir ständig dieselben Fragen zu stellen, ständig über denselben Ängsten zu brüten. Meine Schweißtropfen verwandelten sich in Sicheln, schnitten mir ins Fleisch. Ich atmete tief durch, um dieses Gift zu vertreiben, das mich innerlich verpestete. Auf der Straße fügten sich Fußgänger und Fahrzeuge zu einem chaotischen Ballett. Die Huptöne, spitz wie Degenstiche, spießten mich förmlichauf. Das Warten nahm kein Ende … Ich spürte, wie ich mich auflöste. Eine Stimme murmelte mir zu: nun geh doch endlich … Ich schüttelte den Kopf, um sie zum Schweigen zu bringen. Dunkelheit hatte sich im Laden ausgebreitet, nur die Umrisse der Auslagentische mit den stufenförmig angeordneten Bücherstapeln waren noch deutlich zu erkennen.
»Sie wünschen …?«
Sie stand hinter mir, schmächtig und geisterhaft. Man hätte meinen können, sie sei dem Halbdunkel entstiegen wie damals in jener tragischen Nacht. Auch jetzt schien die Nacht an ihr herunterzurieseln, wie sie da stand, mit dem schwarzen Kleid, dem
Weitere Kostenlose Bücher