Die Schuld des Tages an die Nacht
Menge sich schweigend. Krimo ließ Émilie und ihren Sohn in einem kleinen Auto Platz nehmen, das ihnen der Bürgermeister zur Verfügung gestellt hatte. Auch die Rucillios verschwanden. Jean-Christophe begrüßte rasch noch Fabrice, dann eilte er los, um nicht den Anschluss an seinen Clan zu verlieren. Türen schlugen, Motoren dröhntenauf, langsam leerte sich der Platz. Nur eine Gruppe Milizionäre und Ordnungshüter in Uniform blieben sichtlich betroffen am Grab zurück, voller Schuldgefühle, weil sie nicht verhindern konnten, dass solch ein Unglück mit voller Wucht ihren Ort traf. Fabrice winkte mir flüchtig von weitem zu. Ich dachte, er würde kommen, um mich zu trösten; doch er half nur seiner Frau in den Wagen, setzte sich dann, ohne mir noch einen Blick zuzuwerfen, ans Steuer und fuhr los. Erst als sein Wagen aus meinem Sichtfeld verschwand, merkte ich, dass ich allein unter den Toten war.
Émilie verließ Río und zog nach Oran.
Doch in meinen Gedanken nistete sie sich umso fester ein. Sie tat mir leid. Ich stellte mir vor, wie furchtbar einsam sie war, wie sehr die verfrühte Witwenschaft sie schmerzte, zumal von Madame Cazenave keinerlei Lebenszeichen mehr kam. Was sollte nur aus ihr werden? Wie würde sie in einer lärmenden Metropole wie Oran unter lauter wildfremden Menschen jemals Fuß fassen können, zumal die städtische Mentalität, im Gegensatz zum Dorf, keinerlei Mitgefühl kannte, Beziehungen allein auf der Basis von Interessen definierte und einem eine Fülle riskanter Balanceakte und Zugeständnisse abverlangte, bevor man auf Anerkennung hoffen durfte. Dazu dieser Krieg, der von Tag zu Tag erbitterter geführt wurde, mit all den blindwütigen Attentaten und massiven Vergeltungsschlägen, den Entführungen und grausigen Entdeckungen zu früher Morgenstunde, den mit mörderischen Hinterhalten gespickten Gassen und Straßen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie in einer Stadt, in der der blanke Wahnsinn tobte, im Auge dieser Arena voll Tränen und Blut allein zurechtkommen sollte, allein mit ihrem traumatisierten Sohn, ohne verlässliche Stütze.
Auch im Dorf waren die Dinge nicht mehr wie zuvor. Man hatte den jährlichen Winzerball abgesagt, aus Angst, eine Bombe könne das fröhliche Treiben in eine Tragödie verwandeln. Auf den Straßen wurden keine Muslime mehr geduldet; ohneSondergenehmigung durften sie Weinfelder und Obstplantagen nicht mehr verlassen. Gleich nach Simons Ermordung hatte die Armee in der ganzen Region eine gewaltige Razzia durchgeführt, hatte das Dhar-el-Menjel-Massiv und die angrenzenden Macchia-Gebiete gründlich durchkämmt. Hubschrauber und Flugzeuge nahmen die verdächtigen Orte unter Beschuss. Nach vier Tagen und drei Nächten Treibjagd kehrten die Soldaten unverrichteter Dinge und völlig erschöpft in ihre Stellungen zurück. Daraufhin ließ Jaime Jiménez Sosa seine Miliz ausschwärmen und den Sektor mit einem engmaschigen Netz von Hinterhalten überziehen, was sich schließlich bezahlt machte. Beim ersten Mal fing man eine Gruppe von drei Fedayin ab, die die Widerstandskämpfer mit Nachschub versorgten; die Maultiere wurden an Ort und Stelle erschossen, die Lebensmittel verbrannt und die von Kugeln durchsiebten Leichen der Fedayin durch die Straßen gekarrt. Rund zehn Tage später überraschte Krimo, der sich inzwischen bei einer Harki-Einheit verdingt hatte, elf Widerstandskämpfer in einer Höhle und räucherte sie aus. Von seiner Großtat berauscht, lockte er einen Trupp Mudschaheddin in eine Falle, tötete sieben von ihnen und stellte zwei Verletzte auf dem Rathausplatz zur Schau, wo sie von der aufgebrachten Menge fast gelyncht worden wären.
Ich ging gar nicht mehr aus dem Haus.
Dann kehrte eine Zeitlang Ruhe ein.
Ich begann, wieder an Émilie zu denken. Sie fehlte mir. Manchmal stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn sie mir gegenübersäße und ich stundenlang mit ihr reden könnte. Es quälte mich, nicht zu wissen, was aus ihr geworden war. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und ging zu Krimo, um zu erfahren, ob er mir helfen könne, sie ausfindig zu machen. Ich war zu allem bereit, nur um sie wiederzusehen. Krimo bereitete mir keinen freundlichen Empfang. Er saß in einem Schaukelstuhl vor seiner Hütte, die Patronengurte über der Brust gekreuzt, das Gewehr auf den Knien.
»DuAasgeier!«, schimpfte er. »Ihre Tränen sind noch nicht getrocknet, und du denkst nur daran, sie zu besitzen.«
»Ich muss mit ihr reden.«
»Worüber? Sie
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