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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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schwarzen Haar, den schwarzen Augen, aus denen eine unverminderte, unverjährte Trauer sprach. Ich musste blinzeln, um sie überhaupt zu erkennen. Nun, da sie einen Meter vor mir stand, merkte ich, wie sehr sie sich verändert hatte, wie sehr ihre einstige Schönheit verblasst war. Émilie war nur mehr der Schatten einer Epoche, eine untröstliche Witwe, die beschlossen hatte, sich aufzugeben, nachdem das Leben ihr unwiederbringlich alles genommen hatte. Schlagartig wurde mir mein Irrtum klar. Ich war hier nicht willkommen. Ich war nur das Messer in der Wunde. Ihre Förmlichkeit oder besser gesagt eisige Unnahbarkeit entwaffnete mich, und ich merkte, dass ich unmöglich wiedergutmachen konnte, was ich eigenhändig zerstört hatte. Dazu noch dieses unerträglich abweisende Sie , das mich beinahe ausradierte. Émilie war mir böse. Ich glaube, sie hatte ihr Unglück nur überlebt, um mir böse sein zu können. Sie musste es gar nicht aussprechen. Ihr Blick war beredt genug. Ein Blick, der vom Ende der Welt zu kommen schien und mich auf Abstand hielt, bereit, mich ans andere Ende der Welt zu befördern, falls ich versuchte, ihm standzuhalten.
    »Was wollen Sie?«
    »Ich?«, erwiderte ich dümmlich.
    »Wer sonst …? Sie waren letzte Woche schon da, und vorletzte Woche, fast jeden Tag. Was soll das? Was für ein Spielchen spielen Sie?«
    MeineKehle war wie zugeschnürt. Ich konnte kaum schlucken.
    »Ich … ich bin zufällig … ganz zufällig … hier vorbeigekommen. Mir war so, als hätte ich dich hinter der Scheibe gesehen, aber ich war mir nicht sicher. Also bin ich wiedergekommen, um mich zu vergewissern, dass du es wirklich bist …«
    »Ja, und weiter?«
    »Na ja, ich habe mir gesagt … ich weiß nicht … Ich wollte dir guten Tag sagen … nun, sehen, ob es dir gutgeht … mit dir reden halt. Aber ich habe mich nicht getraut.«
    »Hast du dich je im Leben etwas getraut?«
    Sie spürte, dass sie mich verletzt hatte. Etwas am Grund ihrer nachtschweren Augen rührte sich. Wie eine Sternschnuppe, die im Moment ihres Aufglühens auch schon verlischt.
    »Du hast also die Sprache wiedergefunden, seit damals, als du nicht wusstest, was du sagen solltest … Weshalb wolltest du mit mir reden?«
    Nur ihre Lippen bewegten sich. Ihr Gesicht, ihre bleichen, mageren, ineinander verschlungenen Hände, ihr gesamter Körper blieben reglos. Es waren nicht wirklich Worte, die aus ihrem Munde kamen, eher ein Hauch, ein anschwellender Fluch.
    »Ich glaube, der Moment ist schlecht gewählt.«
    »Ich würde es gern dabei bewenden lassen. Bringen wir es zu Ende. Worüber wolltest du mit mir reden?«
    »Über uns beide«, sagte ich, und es war, als hätten meine Gedanken beschlossen, sich selbständig zu machen und künftig ohne mich auszukommen.
    Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
    »Über uns beide? Gab es das jemals, uns beide?«
    »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
    »Kann ich mir vorstellen.«
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich das bedauere. Es tut mir so, so wahnsinnig … Wirst du mir eines Tages verzeihen?«
    »Was würde das ändern?«
    »Émilie… es tut mir so wahnsinnig leid.«
    »Das sind nur Worte, Younes. Sicher, es gab eine Zeit, da hätte ein Wort von dir den Lauf des Schicksals verändert. Aber du hast dich nicht getraut, es auszusprechen. Du musst begreifen, dass alles zu Ende ist.«
    »Was ist zu Ende, Émilie?«
    »Das, was niemals richtig begonnen hat.«
    Ich war vernichtet. Ich konnte es nicht fassen, dass ich noch aufrecht stand, meine Beine waren aus Brei, mein Kopf zersprang; ich hörte mein Herz nicht mehr schlagen, das Blut in meinen Schläfen nicht mehr pochen.
    Sie tat einen Schritt auf mich zu. Es war, als trete sie aus der Wand heraus.
    »Womit hattest du denn gerechnet, Younes? Dass ich vor Freude an die Decke springe? Dass ich rufe, es ist ein Wunder geschehen? Warum sollte ich? Hatte ich denn mit dir gerechnet? Natürlich nicht. Du hast mir ja noch nicht einmal Zeit gelassen, von dir zu träumen. Du hast meine Liebe zu dir bei den Schwingen gepackt und ihr den Hals umgedreht. Einfach so! Sie war tot, bevor sie je festen Boden unter den Füßen hatte.«
    Ich schwieg. Ich hatte Angst, in Tränen auszubrechen, sobald ich den Mund öffnete. Ich erkannte, wie viel Leid ich ihr zugefügt, wie sehr ich ihre Hoffnungen mit Füßen getreten hatte, ihre Jungmädchenträume, ihre Vorstellung von einem echten, nachhaltigen Glück, vertrauensvoll und naturgegeben, das ihre Augen damals vor

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