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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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seliger Erwartung strahlen ließ.
    »Darf ich dir eine Frage stellen, Younes?«
    Ich nickte, die Kehle immer noch wie zugeschnürt.
    »Warum? Warum hast du mich zurückgewiesen? Wäre es wegen einer anderen gewesen, hättest du sie geheiratet, und ich hätte es verstanden. Aber du hast noch immer keine Frau …«
    Eine Träne bahnte sich den Weg zwischen meinen Wimpern hindurch auf meine Wange. Ich konnte sie nicht zurückhalten. Kein einziger Muskel wollte mir gehorchen.
    »… Es hat mich Tag und Nacht beschäftigt«, fuhr sie mit tonloserStimme fort. »Was war denn an mir so abstoßend? Was hatte ich mir zuschulden kommen lassen? Ich sagte mir: Er liebt dich nicht, so einfach ist das. Er hat dir vielleicht gar nichts vorzuwerfen. Er empfindet einfach nichts für dich … Aber ich brachte es nicht fertig, mir das einzureden. Du warst doch nach meiner Hochzeit so wahnsinnig unglücklich. Und da habe ich mir gesagt: Younes verheimlicht mir etwas …«
    »…«
    »Was verheimlichst du mir, Younes? Was willst du mir nicht sagen?«
    Da brach der Deich. Sturzbäche von Tränen überschwemmten meine Wangen, mein Kinn, meinen Hals. Ich weinte und weinte und spürte, wie alles aus mir herauskam, meine Qualen, meine Gewissensbisse, meine halbherzigen Schwüre. Gleich einem geplatzten Furunkel. Ich weinte wie eine ganze Kinderschar – und hätte am liebsten gar nie mehr aufgehört.
    »Siehst du?«, sagte sie. »Du willst mir noch immer nichts sagen.«
    Als ich den Kopf hob, war Émilie verschwunden. Als hätte die Wand sie verschluckt, das Halbdunkel sie absorbiert. Nur ihr Duft schwebte noch im Raum, vermischte sich mit dem Geruch der Bücher. Drei Regale weiter sahen zwei alte Damen mitleidig zu mir herüber. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und verließ die Buchhandlung im Gefühl, dass aus dem Nichts ein Nebel heraufzog und das letzte Tageslicht aufsog.

18 .
    ES WAR ENDE APRIL 1959 , gegen neunzehn Uhr. Die Flammen der untergehenden Sonne züngelten am Himmel, während eine einzelne Wolke, von ihrer Herde abgehängt, reglos über dem Dorf verweilte, bis der Wind sie fortreißen würde. Ich sortierte noch ein paar Kartons im Hinterzimmer der Apotheke und wollte dann Feierabend machen. Als ich wieder nach vorne kam, sah ich einen jungen Mann im Eingang stehen. Er war nervös, hatte seine Jacke merkwürdig gerafft, als verstecke er etwas darunter.
    »Ich will dir nichts Böses«, stotterte er auf Arabisch.
    Er mochte etwa sechzehn, siebzehn Jahre alt sein. Sein Gesicht war so bleich, dass die einzelnen Flaumhärchen sich deutlich von seiner Oberlippe abhoben. Er wirkte, als wäre er auf der Flucht. Mager wie eine Hopfenstange, trug er eine Hose, die an den Knien durchlöchert war, dazu erdverkrustete Dschungelboots und ein zerknittertes Tuch um den schrundigen Hals.
    »Jetzt ist doch Ladenschluss, oder?«
    »Was willst du denn überhaupt?«
    Er öffnete kurz seine Jacke und schlug sie gleich wieder zu – unter dem Koppel hatte er eine dicke Pistole stecken. Beim Anblick der Waffe gefror mir das Blut.
    »Mich schickt El-Jabha , die Front. Du lässt jetzt schön das Eisenrollo herunter. Es geschieht dir nichts, wenn du genau das tust, was ich dir sage.«
    »Wasist denn das für eine Geschichte?«
    »Die Geschichte deines Vaterlandes, Doktor.«
    Da ich zögerte, zog er die Waffe – doch ohne die Mündung auf mich zu richten – und herrschte mich an, ich solle seinem Befehl Folge leisten. Ich ließ das Rollo herunter, wobei ich unentwegt auf seine Kanone starrte.
    »Jetzt geh zurück.«
    Seine Angst stand meiner in nichts nach. Ich fürchtete, er könnte vor Nervosität schneller schießen als denken, und hob die Hände, um ihn zu beruhigen.
    »Schließ die Fensterläden und mach das Licht an.«
    Ich gehorchte. In der Stille des Raums ratterte mein Herz laut wie ein Maschinenkolben.
    »Ich weiß, dass deine Mutter im Obergeschoss ist. Ist sonst noch jemand im Haus?«
    »Ich erwarte Gäste«, log ich.
    »Wir werden gemeinsam auf sie warten.«
    Er schnäuzte sich, mit der Waffe in der Hand, und gab mir das Zeichen, die Treppe hochzugehen. Ich war keine vier Stufen weit gekommen, da drückte er mir den Lauf seiner Pistole in die Rippen:
    »Ich sag’s dir noch einmal: Es passiert dir nichts, wenn du tust, was ich dir sage.«
    »Steck deine Waffe weg. Ich verspreche dir, dass ich …«
    »Du hast da nichts zu melden. Und lass dich von meiner Jugend nicht täuschen. Anderen blieb keine Zeit, ihren Irrtum zu bereuen.

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