Die Schuld des Tages an die Nacht
aufging.
»Wo ist Simon?«
Sie wandte den Kopf in Richtung des alten Pferdestalls. Ich raste durch die Gluthitze, wie betäubt vom Tumult des Feuers und dem Bersten der Fensterscheiben. Beißender, wirbelnder Rauch verhüllte den Hügel. Der alte Stall war in tiefe Stille getaucht, die mir entsetzlicher vorkam als die Feuersbrunst hinter mir. Auf dem Rasen lag bäuchlings ein Mensch, die Arme seitlich ausgestreckt; in Intervallen wurde er vom Feuerschein beleuchtet. Mir versagten die Knie. Ich erkannte, dass ich allein war, mutterseelenallein, und ich fühlte mich außerstande, mich dem ohne Hilfe von außen zu stellen. Ich wartete, in der Hoffnung, die Frau des Gärtners würde mir beistehen. Doch sie kam nicht. Außer dem Tosen der Flammen und dem Körper auf dem Rasen nahm ich nichts wahr. Der Körper bewegte sich nicht. Er war nackt, abgesehen von einer kurzen Unterhose. Die Blutlache, in der er schwamm, ähnelte einem dunklen Loch. Ich erkannte ihn an der Glatze: Simon …! War das schon wieder ein böser Traum? War ich in meinem Zimmer und schlief? Aber die Schürfwunde an meinem Arm schmerzte, also war ich wohlhellwach. Simons Gesicht, das mir zugewandt war, erinnerte an einen Kreideblock; das Flackern am Grund seiner Pupillen war ein für alle Mal erstarrt. Er war tot.
Ich kauerte mich vor die sterbliche Hülle meines Freundes. Wie in Trance. Weder Herr meiner Gesten noch meiner Gedanken. Gleichsam von selbst bewegte sich meine Hand zum Rücken des Toten hin, wie um zu versuchen, ihn aufzuwecken …
»Rühr ihn nicht an!«, hallte eine Stimme aus dem Halbdunkel.
Émilie war da, im Schutz des Stalls. Ihr blasses Gesicht leuchtete im Dunkeln. Aus ihren Augen schossen Flammen, so gewaltig wie das Feuer in meinem Rücken. Sie war barfuß, mit wallendem Haar, trug ein transparentes Seidennachthemd und hatte ihren verängstigten Sohn Michel fest an sich gedrückt.
»Ich verbiete dir, ihn anzurühren!«, wiederholte sie mit einer Stimme, die aus dem Jenseits kam.
Ein bewaffneter Mann tauchte hinter ihr auf. Es war Krimo, Simons Chauffeur, ein Araber aus Oran, der in einem Restaurant an der Küstenstraße arbeitete und den mein Freund vor seiner Hochzeit eingestellt hatte. Seine schlaksige Silhouette löste sich vom Stall und bewegte sich mit äußerster Vorsicht auf mich zu.
»Einen habe ich erwischt. Ich habe ihn schreien hören.«
»Was ist denn passiert?«
»Die Fellagas. Sie haben Simon erdolcht und überall Feuer gelegt. Als ich kam, waren sie schon weg. Ich habe gesehen, wie sie unten durch die Schlucht entkommen sind. Ich habe geschossen. Sie haben noch nicht einmal zurückgeschossen, diese Schweinehunde. Aber einen von ihnen habe ich aufheulen hören.«
Er baute sich breitbeinig vor mir auf. Im Flammenschein war seine Abscheu deutlich zu erkennen.
»Warum Simon? Was hat er ihnen getan?«, fragte er mich.
»Verschwinde!«, rief Émilie mir zu. »Lass uns allein mit un seremUnglück, verschwinde … Jag ihn weg, Krimo, ich will ihn nicht sehen!«
Krimo legte sein Gewehr auf mich an.
»Hast du gehört? Hau ab.«
Ich schüttelte den Kopf und machte kehrt, im Gefühl, keinerlei Bodenhaftung mehr zu haben, in einem luftleeren Raum zu schweben. Ich lief dem brennenden Haus entgegen, dann durch die Obstplantagen zurück ins Dorf. Auf der anderen Seite des Friedhofs tauchten Automobilscheinwerfer auf, steuerten die Piste zum Marabout an. Hinter der Wagenkolonne hasteten menschliche Gestalten dem Unglücksort zu, ihre Stimmen drangen in Fetzen zu mir durch, aber Émilies Stimme übertönte sie alle.
Simon wurde auf dem israelitischen Friedhof beigesetzt. Das Dorf hatte sich vollständig versammelt, um ihm das letzte Geleit zu geben. Menschentrauben drängten sich um Émilie und ihren Sohn. Émilie, ganz in Schwarz, das Gesicht hinter einem Schleier verborgen, gab sich würdig in ihrem Schmerz. Ihr zur Seite saßen, ins Gebet vertieft, die Mitglieder der Familie Benyamin aus Río und den umliegenden Orten. Simons Mutter weinte auf ihrem Stuhl, völlig gebrochen und taub für das Geflüster ihres Mannes, eines gebrechlichen Alten. Einige Reihen weiter hinten standen Hand in Hand Fabrice und seine Frau. Jean-Christophe hatte sich in den Clan der Rucillios eingereiht, in seinem Schatten hielt sich, kaum zu erkennen, Isabelle. Ich hatte mich in den hintersten Winkel des Friedhofs verdrückt, so weit von allen anderen entfernt, als sei ich schon aus ihrer Welt verstoßen.
Nach der Beerdigung zerstreute die
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