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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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immer nur in sich hineinzufressen.«
    »Ich habe keinen Groll. Ich muss nur allein sein.«
    »Störe ich dich?«
    Ich ließ meinen Blick wieder über den Horizont schweifen, um nicht antworten zu müssen.
    »Ist doch Wahnsinn, was mit uns passiert«, seufzte er und stützte sich wieder aufs Geländer. »Wer hätte sich je vorgestellt, dass unser Land so tief sinken könnte?«
    »Das war vorhersehbar, Dédé. Ein ganzes Volk lag am Boden, und man hat es wie das Gras auf der Wiese zertreten. War zuerwarten, dass es sich früher oder später aufrichten würde. Dabei kommt man zwangsläufig zu Fall.«
    »Denkst du das wirklich, was du da sagst?«
    Diesmal schaute ich ihm ins Gesicht:
    »Dédé, wie lange wollen wir uns eigentlich noch anlügen?«
    Er führte die Faust an den Mund und blies hinein, während er über meine Worte nachdachte.
    »Stimmt schon, es lag einiges im Argen, aber deswegen muss es nicht gleich zu einem derart blutigen Krieg kommen. Es ist von Hunderttausenden von Toten die Rede, Jonas. Das ist doch viel zu viel, findest du nicht?«
    »Das fragst du mich?«
    »Ich kann es einfach nicht fassen. Was in Algier passiert, übersteigt jedes Vorstellungsvermögen. Und Paris weiß auch nicht mehr weiter. Jetzt reden sie von Selbstbestimmung. Was soll das heißen, Selbstbestimmung? Dass man einen Strich macht und von Gleich zu Gleich neu anfängt? Oder …«
    Er traute sich nicht, seinen Satz zu beenden. Seine Unruhe verwandelte sich in Wut; seine Fingerknöchel wurden so weiß, als zerquetsche er mit aller Macht seine Ängste.
    »Letztlich hat er nicht die Bohne von unserem Unglück verstanden, dieser verfluchte General«, murmelte er in Anspielung an das berühmte »Ich habe euch verstanden«, das de Gaulle der jubelnden Bevölkerung Algiers am 4 . Juni 1958 zugerufen hatte und das den Illusionen einen letzten Aufschub gewährte.
    Eine Woche nach Andrés Besuch, am 9 . Dezember 1960 , pilgerte Río Salado geschlossen nach Aïn Témouchent, in die Nachbarstadt, in der der General eine Versammlung abhielt, die der Pfarrer die »Messe des letzten Gebets« getauft hatte. Gerüchte hatten die Runde gemacht, in denen vom Schlimmsten die Rede war, doch die Menschen stellten sich taub. Die Angst ließ sie näher zusammenrücken und verstärkte die Scheuklappen; sie weigerten sich, eine Zukunft anzuerkennen, an der es nichts mehr zu rütteln gäbe. Ich hatte sie gehört, wie sie in aller Frühe ihre Autos aus den Garagen holten, sich zu Konvois zusammentaten,einander beim Namen riefen, vollmundig Scherze machten, lauthals schrien, um diese deprimierende Stimme zu übertönen, die ihnen den Schlaf raubte und ohne Pause, ohne Unterlass wiederholte, dass die Würfel gefallen seien und ihr Schicksal besiegelt. Sie konnten noch so herzhaft lachen und den Ton anheben, so tun, als hätten sie noch mitzureden, man sah sehr wohl, dass ihr Eifer nur aufgesetzt, die Haltung, um die sie sich bemühten, nicht glaubwürdig war, dass ihr verstörter Blick so ganz und gar nicht zur vorgeschützten Selbstsicherheit passte. Sie hofften, wenn sie nur opti mis tisch blieben, den Schein wahrten, sich zusammenrissen, könnten sie das Schicksal zur Umkehr zwingen, das Wunder vollbringen. Und vergaßen ganz, dass der Countdown längst begonnen hatte und es nichts mehr zu retten gab, denn man musste schon blind sein, um weiter durch die Nacht sämtlicher Utopien zu laufen und auf eine Morgenröte zu hoffen, die längst über einer neuen Epoche angebrochen war.
    Ich ging hinaus, um eine Runde durch die verlassenen Straßen zu drehen. Dann begab ich mich auf die andere Seite des israelitischen Friedhofs, um einen Blick auf die verkohlten Ruinen des Hauses zu tun, das der Schauplatz meiner ersten erotischen Erfahrung war. Ein Pferd weidete im Gras neben dem einstigen Stall, ohne sich von den Irrungen und Wirrungen der Menschen beeindrucken zu lassen. Ich setzte mich auf ein Mäuerchen und blieb bis Mittag dort, versuchte, Madame Cazenaves Silhouette zu neuem Leben zu erwecken. Doch ich sah nur den brennenden Wagen Simons und Émilie, wie sie ihren verängstigten Sohn an ihren halbnackten Körper presste.
    Der Fahrzeugkonvoi kehrte aus Aïn Témouchent zurück. Am Morgen waren sie unter lautem Hupen und Geknatter losgefahren, mit wehender Trikolore. Jetzt kamen sie von der Kundgebung zurück wie von einem Leichenbegängnis, in der gedrückten Stille eines Trauerkorsos, die Standarten auf Halbmast, die Köpfe gesenkt. Eine bleierne Schwere legte

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