Die Schuld des Tages an die Nacht
sich über das Dorf. Allen stand die Trauer über eine längst aufgegebene Hoffnungins Gesicht geschrieben, die man vergebens mit Weihrauchkringeln zu beschwören versucht hatte. Algerien würde algerisch sein.
Am nächsten Tag prangte triumphierend, in riesigen roten Lettern, auf der Fassade eines Weinkellers der Schriftzug F L N .
Oran hielt in diesem Frühjahr 1962 den Atem an. Ich suchte Émilie. Ich hatte Angst um sie. Ich brauchte sie. Ich liebte sie, und ich kam zurück, um es ihr zu beweisen. Ich fühlte mich nunmehr imstande, allen Orkanen, Donnerwettern, Bannflüchen und dem Elend der ganzen Welt zu trotzen. Ich hielt es vor Sehnsucht nach ihr nicht mehr aus. Hielt es nicht mehr aus, die Hand nach ihr auszustrecken und mit den Fingerspitzen nichts als ihre Abwesenheit zu ertasten. Ich sagte mir, sie wird dich wegstoßen, dich harsch anfahren, den Himmel über dir einstürzen lassen, doch all das entmutigte mich nicht. Ich hatte keine Angst mehr, meine Schwüre zu brechen, meine Seele dem Verderben preiszugeben. Fürchtete nicht mehr, die Götter zu kränken, bis ans Ende aller Zeiten Scham und Schande zu verkörpern. In der Buchhandlung hatte man mir gesagt, Émilie sei eines Abends gegangen und habe seitdem kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Ich erinnerte mich an die Nummer des Trolleybusses, den sie genommen hatte, als ich zuletzt dort war, stieg an sämtlichen Haltestellen aus, durchkämmte alle Straßen im Umkreis. Ich glaubte, sie in jeder Frau zu erkennen, die ihren Alltagsgeschäften nachging, in jeder Gestalt, die hinter einer Biegung oder in einem Hauseingang verschwand. Ich fragte bei den Lebensmittelhändlern, auf den Polizeistationen, bei den Briefträgern nach, und obwohl ich Abend für Abend unverrichteter Dinge heimfuhr, kam mir kein einziges Mal der Gedanke, ich verschwende meine Zeit. Aber wo sollte man sie finden in einer Stadt im Belagerungszustand, die einer Arena unter offenem Himmel glich, inmitten all des Chaos und des Wütens der Menschen? Die Geburtswehen des algerischen Algerien vollzogen sich unter Strömen von Tränenund Blut, und das französische Algerien hauchte seine Seele in einem kolossalen Aderlass aus. Beide waren völlig ausgelaugt von sieben Jahren Horror und Krieg und fanden doch immer noch die Kraft, einander zu zerfleischen wie nie zuvor. Der »Barrikaden-Aufstand«, der in Algier im Januar 1960 dekretiert worden war, hatte den unbeugsamen Kurs der Geschichte nicht bremsen können. Und der »Putsch der Generäle«, der im April 1961 von einer Handvoll Sezessionisten losgetreten wurde, hatte beide Völker in einen surrealen Strudel gestürzt. Die Militärs wurden von den Ereignissen überrollt. Die Soldaten schossen kreuz und quer auf die Zivilisten. Wehrten den Druck des einen Bevölkerungsteils nur ab, um sich dem des anderen zu beugen. Jene, die sich durch die politischen Manöver von Paris »ausgebootet« fühlten, anders gesagt die Befürworter des definitiven Bruchs mit dem französischen Mutterland, griffen zu den Waffen und schworen, sich dieses Algerien, das man ihnen wegnehmen wollte, Zoll für Zoll, Elle für Elle zurückzuholen. Städte und Dörfer versanken im Alptraum aller Alpträume. Die Kette der Attentate und Vergeltungsschläge, der Morde, Entführungen und Überfallkommandos riss überhaupt nicht mehr ab. Wehe dem Europäer, der sich mit einem Muslim blicken ließ, wehe dem Muslim, der sich mit einem Europäer einließ. Demarkationslinien isolierten die einzelnen Gemeinschaften, die sich nur noch vom Herdentrieb leiten ließen, Tag und Nacht ihre Grenzen bewachten und ohne viel Federlesens jeden lynchten, der an die falsche Adresse geriet. Jeden Morgen fand man leblose Körper in den Straßen, jede Nacht lieferten Phantome sich furchtbare Schlachten. Die Graffiti an den Wänden gemahnten an Grabinschriften. Inmitten der »Votez oui« , » FLN « und »Vive l’Algérie française« erstreckten sich, ohne Vorwarnung, die drei Initialen der Apokalypse, OAS , für Organisation armée secrète , Geheime Armee-Organisation, eine Ausgeburt der Kolonialagonie, die sich den Tatsachen nicht beugen wollte und den Graben der Verdammnis noch vertiefen würde, bis ins finstere Herz der Hölle hinein.
Émiliehatte sich in Luft aufgelöst, aber ich war fest entschlossen, sie selbst aus dem Fegefeuer herauszuholen. Ich fühlte es, sie war ganz nah, zum Greifen nah – ich brauchte nur irgendwo einen Vorhang anzuheben, eine Tür aufzustoßen, einen
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