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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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spürte, wie ich immer weiter abdriftete und mich langsam zersetzte. So beschwor ich meinen verstorbenen Onkel herauf. Die Erinnerung an ihn rückte an die Stelle meiner sämtlichen Erinnerungen, sein Phantom schob alles Unglück beiseite, das mich getroffen hatte. Vielleicht fehlte er mir am Ende ja doch? Ich fühlte mich so allein, dass ich um Haaresbreite selber verschwunden wäre, gleich einem Schatten, den die Finsternis verschluckt. Während ich darauf wartete, dass meine Prellungen abschwollen, nistete ich mich in seinem Arbeitszimmer ein und entdeckte mit Begeisterung seine Hefte – ein Dutzend Notizbücher und Schreibhefte voller Kommentare, Kritiken, Zitate von Schriftstellern und Philosophen aus der ganzen Welt. Er hatte auch Tagebuch geführt, ich fand es zufällig unter einem Arsenal von Zeitungsausschnitten ganz unten in seinem Schreibtisch. Seine Schriften handelten vom Algerien der Unterdrückten, von der nationalistischen Bewegung und den menschlichen Verirrungen, die das Leben, seinen ganzen Sinn, auf ein primitives Kräftemessen reduzierten, auf das so beklagenswerte wie törichte Streben der einen, die anderen zu unterjochen. Mein Onkel besaß eine ungeheure Bildung; er war ein Privatgelehrter und ein weiser Mann. Ich erinnerte mich wieder an den Blick, mit dem ermich bedachte, wenn er seine Hefte zuklappte: ein sanft funkelnder Blick von anrührender Intelligenz. »Ich wünsche mir, dass meine Texte den kommenden Generationen zum Nutzen gereichen«, hatte er einmal zu mir gesagt. »Es wird dir zum Nachruhm gereichen«, hatte ich erwidert, im Glauben, es würde ihm schmeicheln. Doch seine Gesichtszüge hatten sich verfinstert, und er hatte nur entgegnet: »Der Nachruhm hat den Griff des Todes noch nie gelockert. Sein einziges Verdienst besteht darin, unsere Angst vor dem Tod zu mildern, denn keine Therapie ist angesichts unserer unerbittlichen Vergänglichkeit wirkungsvoller als die Illusion einer schönen Ewigkeit … Dennoch, eine Art von Nachruhm läge mir schon am Herzen: ins Gedächtnis einer aufgeklärten Nation einzugehen. Das ist der einzige Nachruhm, den ich mir wünsche.«
    Wenn ich von meinem Balkon aus in die Ferne schaute und nichts am Horizont erblickte, fragte ich mich, ob es wohl ein Leben nach dem Krieg geben würde.
    André Sosa kam mich eine Woche nach Pépé Rucillios Auftritt besuchen. Er stellte sein Auto am Rand der Weinfelder ab und machte mir Zeichen, herunterzukommen. Ich winkte ab. Er öffnete den Wagenschlag und stieg aus. Er trug einen weiten beigen Mantel, der den Blick auf seinen dicken Bauch freigab, und kniehohe Lederstiefel. An seinem offenen Lächeln erkannte ich, dass er in friedlicher Absicht kam.
    »Wollen wir eine Runde in meiner Karre drehen?«
    »Ich fühle mich hier eigentlich am wohlsten.«
    »Na, dann komm ich doch mal hoch.«
    Ich hörte, wie er Germaine in der Diele respektvoll begrüßte, die Treppe hinaufstieg und die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Bevor er zu mir auf den Balkon kam, fiel sein Blick auf mein zerwühltes Bett, dann auf den Bücherstapel, der sich auf dem Nachttisch türmte, wanderte weiter zum Kamin, auf dem sich das Holzpferd bäumte, das Jean-Christophe mir vor langer Zeit einmal geschenkt hatte, am Tag nach der Abreibung, die er mir in der Schule verpasst hatte – in einem früheren Leben.
    »Daswar die gute alte Zeit, Jonas, was?«
    »Die Zeit ist alterslos, Dédé. Wir sind es, die älter geworden sind.«
    »Du hast recht, nur dass wir uns nicht den Wein zum Vorbild genommen haben. Wir sind mit den Jahren nicht kostbarer geworden.«
    Er stützte sich neben mir auf das Balkongeländer und ließ seinen Blick über die Reben gleiten.
    »Niemand im Dorf glaubt, dass du etwas mit dieser Fellaga-Geschichte zu tun hast. Krimo treibt es viel zu weit. Ich habe ihn gestern gesehen, und ich habe es ihm ins Gesicht gesagt.«
    Er wandte sich zu mir um, versuchte, nicht auf die blauen Flecken zu starren, die mich entstellten.
    »Ich hätte schon früher herkommen sollen.«
    »Was hätte das geändert?«
    »Ich weiß nicht … Hast du Lust, mit mir nach Tlemcen zu fahren? In Oran ist es nicht mehr auszuhalten bei dem täglichen Gemetzel, und ich habe Lust auf einen Tapetenwechsel. In Río stimmt mich alles nur noch traurig.«
    »Ich kann nicht.«
    »Wir bleiben auch nicht lange. Ich kenne da ein Restaurant …«
    »Lass gut sein, Dédé.«
    Er nickte.
    »Ich verstehe dich ja. Aber ich find’s nicht in Ordnung. Es tut nicht gut, seinen Groll

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