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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Erzeuger die Frucht meiner Arbeit hingehalten.
    »Was ist das?«, hatte er misstrauisch gefragt.
    »Ich kann nicht zählen … Das Geld hab ich selbst verdient, ich habe Vögel verkauft.«
    »Was für Vögel?«
    »Stieglitze. Ich fange sie mit Zweigen, die ich mit Leim bestrichen habe …«
    Mein Vater griff erbost nach meiner Hand, um mir das Wort abzuschneiden. Wieder erinnerten seine Augen an weißglühende Kugeln. Seine Stimme zitterte so sehr, dass sie kaum wiederzuerkennen war, als er sagte:
    »Jetzt sperr mal die Ohren auf, mein Kind. Ich brauche dein Geld ebenso wenig wie einen Imam am Bett.«
    Der Druck seiner Hand verstärkte sich im selben Maße, in dem der Schmerz meine Gesichtszüge verzerrte.
    »Siehst du …? Ich tue dir weh. Und dein Schmerz, der geht mir durch und durch. Ich will dir ja nicht die Hand zerquetschen, ich will nur, dass es in deinen kleinen Kopf hineingeht, dass ich kein Phantom bin, sondern aus Fleisch und Blut, und dass du merkst, wie lebendig ich bin.«
    Ich spürte, wie meine Fingerknöchel in seiner Faust zu Wachswurden. Tränen trübten mir den Blick. Der Schmerz war unerträglich, aber aufzustöhnen oder loszuheulen, das kam nicht in Frage. Zwischen meinem Vater und mir war alles eine Frage der Ehre. Und die Ehre hing einzig und allein von einem ab: von unserer Fähigkeit, Kraftproben zu bestehen.
    »Was siehst du da, direkt vor deiner Nase?«, fragte er mich und deutete auf den niedrigen Tisch voller Essensreste.
    »Unser Abendessen, Papa.«
    »Es ist kein Festmahl, aber du bist satt geworden, stimmt’s?«
    »Ja, Papa.«
    »Bist du auch nur ein Mal mit leerem Magen zu Bett gegangen, seit es uns hierher verschlagen hat?«
    »Nein, Papa.«
    »Und den Tisch da, an dem wir essen, hatten wir den bei unserem Einzug?«
    »Nein, Papa.«
    »Und den Petroleumkocher dort in der Ecke, hat uns den jemand geschenkt? Oder haben wir ihn von der Straße aufgelesen?«
    »Den hast du uns gekauft, Papa.«
    »Als wir hier ankamen, da war unsere einzige Lichtquelle eine marepoza , stimmt’s? Ein mickriger Docht, der auf einem Ölfleck schwimmt, erinnerst du dich? Und was haben wir heute Abend für ein Licht?«
    »Eine Petroleumlampe.«
    »Und die Flechtmatten, die Decken, die Kopfkissen, der Eimer, der Besen?«
    »Hast alle du gekauft, Papa.«
    »Also, warum versuchst du dann nicht zu verstehen, mein Kind? Ich habe es dir neulich schon gesagt: Ich habe vielleicht die Flinte ins Korn geworfen, aber ins Gras gebissen habe ich noch lange nicht. Ich habe es nicht geschafft, das Land deiner Vorfahren für dich zu erhalten, das bedauere ich. Wie sehr, kannst du dir gar nicht vorstellen. Es vergeht keine Sekunde, in der ich mir das nicht vorwerfe. Aber ich lasse die Arme nicht sinken.Ich schufte bis zum Umfallen, um wieder hochzukommen. Denn es ist an mir, allein an mir, wieder auf die Beine zu kommen. Kannst du mir folgen, mein Kind? Ich will nicht, dass du meinst, du hättest Schuld an dem, was uns widerfährt. Du kannst nichts dafür. Und du schuldest mir nichts. Ich werde dich doch nicht zum Arbeiten schicken, damit ich über die Runden komme. So einer bin ich nicht. Wenn ich falle, stehe ich eben wieder auf, anders geht es nicht, und ich bin deshalb keinem böse. Denn ich werde es schaffen, das verspreche ich dir. Hast du etwa vergessen, dass ich mit meinen Armen Berge versetzen kann? Also, im Namen all unserer Toten und Lebenden, wenn du mein Gewissen erleichtern willst, dann tu mir so was nie wieder an und sag dir, dass jeder Sou, den du nach Hause bringst, mich noch tiefer in Scham und Schande stürzt.«
    Er ließ mich los. Meine Hand war mit meinem Geldbeutel verschmolzen – ich war außerstande, die Finger zu bewegen. Das Taubheitsgefühl ging bis zum Ellenbogen.
    Am nächsten Tag habe ich meinen ganzen Gewinn zu Ouari gebracht.
    Der runzelte die Stirn, als ich mein Portemonnaie in seine Umhängetasche schob. Doch seine Verwunderung hielt nicht lange vor. Schon war er wieder mit seinen Fallen zugange, als wäre gar nichts passiert.
    Das Verhalten meines Vaters verwirrte mich. Wie konnte er mir den bescheidenen Beitrag, den ich leisten wollte, so übelnehmen? War ich denn nicht sein Sohn, sein eigen Fleisch und Blut? Welche absurde Wendung machte aus der besten Absicht eine Beleidigung? Wie stolz wäre ich gewesen, hätte er mein Geld genommen. Stattdessen hatte ich ihn nur verletzt.
    Ich glaube, in dieser Nacht fing ich an, meinen guten Absichten mit Skepsis zu begegnen. Der Zweifel ergriff von

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