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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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mir Besitz, nistete sich in mir ein.
    Ich verstand nichts mehr.
    All meine Gewissheiten waren wie weggefegt.
    MeinVater nahm die Dinge wieder in die Hand. Er wollte mir vor allem beweisen, dass mein Onkel ihn gewaltig unterschätzt hatte. Er schuftete ohne Unterlass und verheimlichte uns das nicht. Er, der normalerweise Stillschweigen über seine Pläne bewahrte, um den bösen Blick fernzuhalten, fing an, meiner Mutter in allen Einzelheiten von jedem Schritt zu erzählen, den er unternahm, um seinen Handlungsspielraum zu erweitern und mehr zu verdienen – und er sprach absichtlich lauter, damit ich ihn hörte. Er versprach uns das Blaue vom Himmel, klimperte mit den Geldstücken, wenn er nach Hause kam, erzählte mit leuchtenden Augen von unserem künftigen Haus, einem richtigen Haus, mit Fensterläden, einer Haustür aus Holz und, wer weiß, vielleicht sogar einem kleinen Gemüsegarten, wo er Koriander, Minze, Tomaten und einen Haufen köstlicher Erdmandeln pflanzen würde, die schneller als jede Näscherei auf der Zunge zerschmolzen. Meine Mutter hörte ihm zu, glücklich, dass ihr Mann Träume hatte und Pläne schmie dete, und selbst, wenn sie nicht alles, was er sagte, für bare Münze nahm, tat sie doch so, als glaube sie ihm, und verging vor lauter Wonne, wenn er nach ihrer Hand griff – etwas, was ich ihn niemals zuvor hatte tun sehen.
    Mein Vater verausgabte sich an mehreren Fronten zugleich. Er wollte so schnell wie möglich hochkommen. Morgens ging er einem Herboristen zur Hand, nachmittags half er bei einem fliegenden Gemüsehändler aus, abends arbeitete er als Masseur in einem maurischen Bad. Er trug sich sogar mit dem Gedanken, sein eigenes Geschäft aufzuziehen.
    Ich dagegen hing auf der Straße herum, allein und ziemlich orientierungslos.
    Eines Vormittags überraschte mich Daho, der Gauner, als ich weit weg von zu Hause herumstromerte. Er hatte ein Reptil um seinen Arm gewickelt, eine grünliche, grässliche Schlange. Er drängte mich in eine Ecke und begann, mit dem Schlangenkopf vor meiner Nase herumzufuchteln, dazu rollte er die Augen, als ob er mich gleich verschlingen wollte. Ich konnte keine Schlangenausstehen, schon den Anblick ertrug ich nicht, ich hatte eine Heidenangst. Daho stachelte das erst recht an, meine Panik machte ihm Spaß. Er nannte mich Waschlappen, Memme. Ich war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen, da tauchte, als hätte ihn der Himmel geschickt, plötzlich Ouari auf. Daho ließ auf der Stelle von seiner kleinen Quälerei ab, bereit, zu verschwinden, falls mein Freund mir zu Hilfe käme. Aber Ouari kam mir nicht zu Hilfe; er musterte uns nur einen Moment und ging dann seiner Wege, als wenn weiter nichts wäre. Und Daho fuhr in aller Seelenruhe fort, mir mit seiner Schlange Angst einzujagen, und schüttete sich vor Lachen schier aus. Sollte er doch, so viel er wollte, mir war das jetzt egal. Mein Kummer war größer als meine Furcht – ich hatte keinen Freund mehr.

4 .
    HOLZBEIN DÖSTE HINTER SEINEM TRESEN , den Turban ins Gesicht gezogen, die wacklige Prothese griffbereit, für den Fall, dass irgendein Naseweis seinen Süßigkeiten zu nahe käme. Die Demütigung, die El Moro ihm zugefügt hatte, war nur noch vage Erinnerung. Seine lange Laufbahn als Goumier hatte ihn gelehrt, die Dinge einfach hinzunehmen. Ich vermute, dass er, nachdem er sein halbes Leben die Schikanen der Unteroffiziere erduldet hatte, auf die er mit verstockter Demut reagierte, den Übereifer der Platzhirsche von Djenane Djato gleichfalls als Autoritätsmissbrauch ansah. Für ihn bestand das Leben aus Höhen und Tiefen, aus heroischen Momenten und solchen, die einen in die Knie zwangen; wichtig war nur, sich nach jedem Sturz wieder aufzurappeln, nach jedem Schlag neu in den Griff zu bekommen … Niemand verhöhnte ihn wegen seiner »Niederlage« gegenüber El Moro, weil kein Mensch eine solche Konfrontation überstanden hätte, ohne einen Teil seiner Seele auf der Strecke zu lassen. Ein Duell mit El Moro war kein reguläres Duell. El Moro, das war der wandernde Tod, das reinste Exekutionskommando. Mit ihm zu tun zu haben und dabei nur ein paar Federn zu lassen, war schon eine Großtat, und dann noch völlig unbeschadet daraus hervorzugehen, mit nichts als einem besudelten Hosenboden, das war geradezu ein Wunder.
    Während Holzbein sein Nickerchen machte, rasierte der Barbier einem Alten den Schädel. Der Greis saß im Schneidersitz auf dem Boden, die Hände auf den Knien, im klaffenden Mundein einziger,

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