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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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zerfressener Zahnstummel. Die Art, wie die Rasierklinge über seine nackte Kopfhaut schabte, schien ihm größte Lust zu bereiten. Der Barbier erzählte ihm von seinen Missgeschicken, doch der Alte hörte nicht zu. Er hielt die Augen geschlossen und genoss es jedes Mal, wenn die Klinge erneut über seinen kieselglatten Schädel fuhr.
    »Fertig!«, rief der Barbier am Ende seines Berichts. »Dein Schädel ist so kahlgeschoren, dass man sogar deine Hintergedanken lesen könnte.«
    »Bist du sicher, dass du auch nichts übersehen hast?«, erwiderte der Greis. »Mir ist, als läge da noch ein wenig Schatten auf meinen Ideen.«
    »Was für Ideen, du alter Kerl? Du willst mir doch wohl nicht weismachen, dass deine grauen Zellen noch feuern.«
    »Ich mag alt sein, aber senil bin ich nicht, nimm dich in Acht. Und sieh gut hin, da ist sicher noch das eine oder andere Härchen, und das stört mich.«
    »Da ist absolut nichts, ich sag’s dir doch. Alles so blank wie ein Ei.«
    »Bitte«, beharrte der Alte, »sieh noch mal nach.«
    Dem Barbier konnte er nichts vormachen. Er wusste, dass der Alte seinen Spaß hatte. Er begutachtete seine Arbeit, überprüfte genau, ob er nicht irgendwo im striemigen roten Nacken des Alten ein Härchen übersehen hatte, dann legte er die Klinge aus der Hand und machte seinem Kunden klar, dass die Sitzung zu Ende war.
    »Los, troll dich, Onkel Djabori. Deine Ziegen warten auf dich.«
    »Bitte …«
    »Genug geschnurrt, sag ich dir. Ich hab noch anderes zu tun.«
    Der Alte stand widerwillig auf, betrachtete sich in der Spiegelscherbe, kramte umständlich in seinen Taschen herum.
    »Ich fürchte, ich habe mein Kleingeld schon wieder zu Hause vergessen«, gestand er mit gespielter Zerknirschung.
    DerBarbier lächelte, wohl wissend, worauf das hinauslaufen würde.
    »So wird’s sein, Onkel Djabori.«
    »Dabei war ich mir so sicher, das Geld heute Morgen eingesteckt zu haben, ich schwör’s dir. Ich hab’s vielleicht unterwegs verloren.«
    »Halb so schlimm«, erwiderte der Barbier resigniert. »Gott wird es mir vergelten.«
    »Kommt nicht in Frage«, japste der Alte scheinheilig. »Ich gehe sofort das Geld holen.«
    »Wie rührend. Sieh nur zu, dass du unterwegs nicht auch noch verlorengehst.«
    Der Alte wickelte sich den Turban um die Glatze und suchte schleunigst das Weite.
    Der Barbier blickte ihm frustriert hinterher und kauerte sich vor seine Munitionskiste.
    »Immer dieselbe Geschichte. Glauben die eigentlich, ich arbeite zum Vergnügen, oder was?«, brummte er. »Verdammt, das ist doch mein Broterwerb. Wovon soll ich heute Abend wohl satt werden?«
    Das sagte er in der Hoffnung, Holzbein eine Reaktion zu entlocken.
    Aber Holzbein ignorierte ihn.
    Der Barbier wartete minutenlang, doch der Goumier rührte sich nicht. Da holte er tief Luft, heftete seinen Blick an eine Wolke hoch am Himmel und hob an zu singen:
    Deine Augen fehlen mir
Und ich erblinde
Sobald du woanders hinschaust
Ich sterbe jeden Tag
An dem du nicht auftauchst
Unter all den Lebenden
Wie soll ich meine Liebe leben
Wenn alles in der Welt Mirvon deiner Abwesenheit erzählt
Wozu wären meine Hände nütze
Gäbe es nicht deinen Körper
Den Pulsschlag des Herrn …
    »So ’ne gequirlte Scheiße!«, rief Holzbein dazwischen.
    Es war, als hätte man einen Eimer Eiswasser über dem Barbier ausgeschüttet. Die Vulgarität des Krämers widerte ihn an. Die Magie des Augenblicks war dahin, die Schönheit des Liedes zerstört. Auch ich war geknickt, mitten aus einem Traum gerissen.
    Der Barbier bemühte sich, den Krämer zu ignorieren. Nach anfänglichem Kopfschütteln räusperte er sich und wollte weitersingen, aber seine Stimmbänder entspannten sich nicht so recht, er war nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache.
    »Was bist du auch für ein gemeiner Kerl!«
    »Und du, du kreischst mir die Ohren voll mit deinen furchtbaren Melodien«, schimpfte Holzbein, während er träge auf seinem Hocker herumrutschte.
    »Mensch, sieh dich doch mal um«, protestierte der Barbier. »Hier gibt’s doch nichts. Hier gehst du ein vor Langeweile. Die Elendshütten fressen dich auf, der Gestank verpestet dir die Luft, und nicht einer, der vielleicht mal ein Lächeln riskiert. Wenn du bei all dem noch nicht mal mehr singen darfst, was bleibt dir dann noch, verdammt?«
    Holzbein zeigte mit dem Daumen auf eine Rolle Hanfseile, die am Haken über seinem Kopf hing.
    »Das bleibt dir. Such dir ein Seil aus, binde es an einem Ast fest, leg dir das andere Ende um

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