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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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den Hals und winkle kurz die Beine an. Danach hast du ewig Ruhe, und nichts und niemand verdirbt dir mehr den Schlaf.«
    »Warum machst du nicht den Anfang, du bist doch derjenige, den hier alles am meisten ankotzt.«
    »Ich kann nicht. Wie du weißt, hab ich ein Holzbein, und das lässt sich nicht anwinkeln.«
    DerBarbier gab es auf. Er verzog sich hinter seine Munitionskiste und vergrub den Kopf in beiden Händen, vermutlich, um lautlos weiter vor sich hin zu trällern … Er wusste, dass sein Gesang vergeblich war. Seine Muse hatte nie existiert. Er reimte sie sich zwischen zwei Seufzern zusammen, wohl wissend, dass er ihrer nie und nimmer würdig wäre. Seine Spiegelscherbe führte ihm sein abstruses Aussehen vor Augen und, damit verbunden, die maßlose Vermessenheit seiner Hoffnungen. Er war klein, fast bucklig, mager, hässlich und so arm wie Hiob. Er hatte kein Dach über dem Kopf, keine Familie im Rücken und keinerlei Aussicht, seine armselige Existenz um auch nur ein Jota zu verbessern. So beschränkte er sich darauf, seinem Traum Ausdruck zu verleihen, um wenigstens irgendwo Halt zu finden, während der Rest der Welt ihm entglitt – einem unterdrückten, unmöglichen Traum, denn es war schwer, sich zu ihm zu bekennen, ohne lächerlich zu wirken, und so nagte er in seinem Eck daran wie an einem köstlichen, wenn auch hoffnungslos nackten Knochen.
    Sein Anblick versetzte mir einen Stich.
    »Komm näher, Kleiner!«, rief Holzbein mir zu, während er den Deckel eines Bonbonglases aufschraubte.
    Er hielt mir ein Bonbon hin, lud mich ein, neben ihm Platz zu nehmen, und sah mich lange an.
    »Junge, lass mal sehen, was für eine Schnute du hast«, sagte er und hob mein Kinn mit dem Finger an. »Hm, sieht ganz so aus, als hätte der liebe Gott einen wirklich guten Tag gehabt, als er dich schuf, mein Sohn. Wirklich. Welch ein Talent! Wie kommt es, dass du blaue Augen hast? Ist deine Mutter Französin?«
    »Nein.«
    »Dann deine Großmutter?«
    »Nein.«
    Seine raue Hand fuhr mir durch die Haare, glitt langsam über meine Wange.
    »Du hast wirklich ein Engelsgesicht, mein Kleiner.«
    »Aufder Stelle lässt du den Jungen in Ruhe!«, donnerte Bliss, der Makler, der plötzlich um die Ecke bog.
    Der alte Goumier zog hastig seine Hand zurück.
    »Ich tue doch nichts Böses«, murrte er.
    »Du weißt ganz genau, wovon ich rede«, sagte Bliss. »Ich warne dich, mit seinem Vater ist nicht gut Kirschen essen. Der würde dir glatt noch das andere Bein ausreißen, und ich hätte nur ungern einen Vollkrüppel in meiner Straße. Man sagt, das bringt Unglück.«
    »Was redest du denn da, mein lieber Bliss?«
    »Mir kannst du nichts vormachen, alter Bock. Warum gehst du nicht nach Spanien, wenn du das Kriegsspielen so sehr liebst, statt hier in deinem Loch zu vermodern und Stielaugen zu machen, sobald ein hübscher Junge vorbeikommt? Da drüben ist noch immer Krieg, und sie brauchen ständig Kanonenfutter.«
    »Er kann nicht«, bemerkte der Barbier. »Er hat eine Prothese, und die lässt sich nicht anwinkeln.«
    »Du halt die Klappe, du Kakerlake!«, fuhr Holzbein ihn an, um das Gesicht zu wahren. »Sonst verleib ich dir der Reihe nach all deine verseuchten Rasiermesser ein.«
    »Da musst du mich ja erst mal fangen. Und außerdem bin ich keine Kakerlake. Ich komm nicht aus der Gosse und habe auch keine Antennen auf der Stirn.«
    Bliss, der Makler, machte mir Zeichen, zu verschwinden.
    Als ich gerade aufstehen wollte, sah ich meinen Vater aus einer engen Gasse auftauchen. Ich lief ihm entgegen. Er kam früher heim als sonst. Seinem Strahlen und dem Paket unter seinem Arm nach zu schließen, musste er sehr zufrieden sein. Er wollte wissen, woher ich das Bonbon hatte, und kehrte auf der Stelle mit mir zum Krämer zurück, um es zu bezahlen. Holzbein weigerte sich, das Geld anzunehmen, beteuerte, das sei doch nur ein bisschen Süßkram und käme außerdem von Herzen. Doch mein Vater sah die Dinge anders und bestand dar auf, dass der Krämer das, was ihm zustand, auch nahm.
    Danach sind wir dann nach Hause gegangen.
    MeinVater wickelte vor unseren Augen das braune Packpapier aus und gab jedem von uns ein Geschenk: meiner Mutter ein Kopftuch, meiner kleinen Schwester ein Kleid und mir ein Paar funkelnagelneue Gummistiefel.
    »Du bist ja verrückt«, sagte meine Mutter.
    »Warum?«
    »Das ist viel Geld, und du brauchst es doch?«
    »Das ist nur der Anfang«, schwärmte mein Vater. »Ich verspreche euch, wir werden bald umziehen. Ich

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