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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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gestern und meine Wünsche von heute zerbröselten im heißen Hauch des Schirokko. Es tat unsäglich weh. Ich wollte mich zu ihm beugen, mir seinen Arm um die Schulter legen und ihm aufhelfen. Ich wollte, dass er mir die Hand reichte, sich an mir festhielte. Ich wollte noch tausend andere Dinge, tausend Hilfestellungen, tausendrettende Strohhalme, doch ich stand nur da, und meine Augen weigerten sich anzuerkennen, was sie sahen, denn alle Gliedmaßen versagten mir den Dienst. Ich liebte meinen Vater viel zu sehr, um mir vorzustellen, dass er da vor meinen Füßen lag, aufgemacht wie eine Vogelscheuche, mit schwärzlichen Fingernägeln und tropfender Nase …
    Da er gegen seine Trunkenheit nicht ankam, gab er die sinnlosen Versuche auf und bedeutete mir mit matter Hand, zu verschwinden.
    Dann, in einer allerletzten Anwandlung von Stolz, atmete mein Vater tief durch und stützte sich erneut auf seinen Stock. Er musste tief in seinem Inneren den letzten Rest an Würde zusammenkratzen, um die Kraft zu finden, wieder hochzukommen. Er schwankte nach vorne, wankte nach hinten, stützte sich mit butterweichen Waden an der Mauer ab, kämpfte mit allem, was ihm zur Verfügung stand, um auf den Beinen zu bleiben. Er klammerte sich an seine wacklige Stütze, ein kranker alter Gaul, kurz davor, zu Boden zu sacken. Dann, einen Fuß vor den anderen setzend, mit der Schulter an der Außenwand der Bar entlangschrappend, versuchte er, Schritt für Schritt von mir wegzukommen. Schritt für Schritt darum bemüht, ein wenig gerader zu gehen, ein wenig Abstand zwischen sich und die Wand zu legen, um mir zu zeigen, dass er durchaus imstande war, aufrecht zu gehen. Dieser pathetische Kampf, den er mit sich selbst ausfocht, war das Tapferste und Groteskeste, was ein Mensch in seiner Ausweglosigkeit unternehmen konnte. Zu betrunken, um weit zu kommen, war er nach wenigen Metern schon außer Puste und drehte sich um, um zu sehen, ob ich nicht endlich verschwunden sei. Aber ich stand noch immer da, mit hängenden Armen, genauso trunken wie er. Und da warf er mir jenen Blick zu, der mich mein Leben lang verfolgen sollte, jenen gequälten, trostlosen Blick, in dem sich jeglicher Schwur auflösen würde, selbst der, den der tapferste aller Väter dem besten aller Söhne geschworen hätte. Ein Blick, den man nur einmal im Leben wirft, weil es danach oder dahinternichts mehr gibt. Mir war klar, es war sein Abschiedsblick. Diese Augen, die mich verzaubert und verschreckt hatten, geliebt und beschützt, gerügt und gerührt, sie ruhten zum allerletzten Mal auf mir.
    »Seit wann ist er in diesem Zustand?«, erkundigte sich der Arzt, während er sein Stethoskop verstaute.
    »Er ist heute Mittag nach Hause gekommen«, antwortete Germaine. »Da wirkte er ganz normal. Wir haben uns zu Tisch gesetzt, er hat eine Kleinigkeit gegessen, dann ist er plötzlich aufgestanden und hat alles ins Bidet erbrochen.«
    Der Arzt war ein großer und hagerer Mann mit einem blassen, schmalen Gesicht. In seinem anthrazitfarbenen Anzug wirkte er ein wenig wie ein Marabout. Energisch schloss er seinen Arztkoffer, während er mich musterte.
    »Ich kann nicht sagen, was er hat«, gestand er. »Er hat kein Fieber, er schwitzt nicht, und es gibt keinerlei Anzeichen für eine Erkältung.«
    Mein Onkel, der neben Germaine am Fußende des Bettes stand, sagte kein Wort. Er hatte dem Arzt aufmerksam dabei zugesehen, wie er mich untersuchte, ihm dann und wann einen besorgten Blick zugeworfen. Letzterer hatte mir in den Mund geschaut, mit einer kleinen Taschenlampe meine Pupillen angeleuchtet, war mit seinem Finger wieder und wieder unter meinen Ohren entlanggefahren und hatte meine Lungen abgehorcht. Als er sich erhob, verzog er bedächtig den Mund.
    »Ich werde ihm etwas gegen die Übelkeit verschreiben. Heute sollte er noch im Bett bleiben. Normalerweise müsste es sich geben. Er hat sicherlich etwas zu sich genommen, das seinem Organismus nicht bekommen ist. Wenn es nicht besser wird, rufen Sie mich.«
    Nachdem der Doktor gegangen war, blieb Germaine bei mir im Zimmer. Sie war keineswegs beruhigt.
    »Hast du auf der Straße etwas gegessen?«
    »Nein.«
    »Hastdu Bauchweh?«
    »Nein.«
    »Was hast du dann?«
    Ich wusste nicht, was ich hatte. Mir war, als zerfiele ich nach allen Seiten. Mir wurde schwindlig, sobald ich den Kopf hob. Es war, als ob meine Eingeweide sich verknoteten, meine Seele taub und fühllos wurde …
    Als ich aufwachte, war es Nacht. Auf der Straße war kein Laut

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