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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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nachgelauscht? Und selbst wenn, was hätte es gebracht? Ich war längst woanders.
    Allerdings hatte sie mich daran erinnert, dass auf der Straße jemand auf mich wartete, dass es Zeit war, zu gehen. Und dann war die Ewigkeit so schnell vorbei, als hätte einer das Licht ausgeknipst, und ich war völlig überrumpelt.
    Draußenim Patio herrschte Stille. Kein Lärm, kein Toben, kein Gekreisch. Der Patio schwieg – lauschte er an unserer Tür? Als ich in den Hof kam, fand ich unsere Nachbarinnen vollständig am Brunnen versammelt. Sie alle, Badra, Mamma, Batoul, die Seherin, die schöne Hadda, Yezza und ihre Blagen, betrachteten mich aus sicherer Entfernung. Es war, als fürchteten sie, mich zu beschädigen, wenn sie mir zu nahe kämen. Badras Springteufelchen hielten förmlich die Luft an. Ihre Hände, die sonst unablässig überall herumfingerten, lagen sittsam am Körper. Ich hatte nur andere Kleider anziehen müssen, um sie in Verwirrung zu stürzen. Ich frage mich noch heute, ob die Welt vielleicht nichts weiter ist als purer Schein. Hast du eine Visage wie aus Pappmaché und einen Jutesack überm hohlen Bauch, dann bist du ein Armer. Wäschst du dir das Gesicht, fährst dir einmal mit dem Kamm durchs Haar und schlüpfst in eine saubere Hose, schon bist du ein anderer Mensch. Es brauchte so wenig … Wenn du diese Dinge mit elf Jahren entdeckst, wirft dich das um. Und wenn deine Fragen zu keiner Antwort führen, begnügst du dich mit denen, die dir genehm sind. Ich war überzeugt, dass Armut keine Frage des Schicksals ist, sondern ausschließlich der Wahrnehmung. Alles bildet sich im Kopf. Was das Auge entdeckt, wird vom Gehirn übernommen und dann für die unwandelbare Realität der Dinge und der Geschöpfe gehalten. Dabei braucht man nur kurz den Blick von der Sackgasse zu heben, in der man steckt, und schon findet man einen anderen Weg, so neu und wundersam, dass man unverhofft zu träumen beginnt … In Djenane Djato träumte kein Mensch. Die Leute hatten beschlossen, dass ihr Schicksal ein für alle Mal besiegelt sei und es daneben, dahinter und darunter nichts anderes mehr gäbe. Und da sie das Leben immer nur von der schlimmsten Seite betrachtet hatten, wurde ihnen das Schielen zur zweiten Natur.
    Mein Onkel hatte mir die Hand noch nicht ganz hingestreckt, da ergriff ich sie schon. Kaum hatten sich seine Finger ummein Handgelenk geschlossen, schaute ich nicht mehr zurück.
    Ich war längst woanders .
    Vom ersten Jahr meiner Adoption ist mir nicht viel in Erinnerung geblieben. Mein Onkel, den jetzt kein Zweifel mehr plagte, hatte mich in einer Schule angemeldet, die nur zwei Häuserblocks von unserer Straße entfernt lag. Ein unauffälliges Gebäude mit schmucklosen Gängen und zwei riesigen Platanen im Pausenhof. Rückblickend kommt es mir so vor, als sei es dort immer düster gewesen, weil das Tageslicht nur das obere Stockwerk streifte. Im Gegensatz zum Lehrer, einem ruppigen und strengen Mann, der uns Französisch mit dem Akzent seiner Heimat, der Auvergne, beibrachte – ein Akzent, den manche Schüler perfekt imitierten –, war die Lehrerin sanft und geduldig. Sie war etwas rundlich und trug stets den gleichen tristen Kittel, und wenn sie durch die Reihen ging, schwebte ihr Parfüm hinter ihr her wie ein Schatten.
    In meiner Klasse gab es nur zwei Araber, Abd el-Kader und Brahim, Söhne hoher Würdenträger, die nach der Schule von Bediensteten abgeholt wurden.
    Mein Onkel wachte über mich wie über seinen Augapfel. Seine gute Laune machte mir Mut. Hin und wieder holte er mich in sein Arbeitszimmer und erzählte mir Geschichten, deren Sinn und Tragweite sich mir damals nicht erschlossen.
    Oran war eine prachtvolle Stadt. Hier herrschte ein besonderer Ton, der ihrer mediterranen Offenheit einen un verwüst lichen Charme verlieh. Der Stadt glückte einfach alles. Ihre Lebensfreude trug sie offen zur Schau. Die Abende waren zauberhaft. Wenn die größte Hitze vorüber war und die Luft sich ein wenig abkühlte, stellten die Leute ihre Stühle auf die Straße und plauderten Stunde um Stunde bei einem Gläschen Anisette. Von unserer Veranda aus sahen wir sie zahllose Zigaretten rauchen und hörten ihre Geschichten. Ihre schlüpfrigen Scherze sprühten wie Sternschnuppen durch die Nacht, und ihrdunkles Lachen rollte bis vor unsere Füße, ähnlich den Wellen, die uns am Strand die Zehen lecken.
    Germaine war glücklich. Kein einziges Mal verweilte ihr Blick auf mir, ohne dass sie ein Dankgebet gen Himmel

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