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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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mehr zu hören. Der Vollmond schien hell in mein Zimmer, und eine leichte Brise spielte mit den Baumästen. Es musste sehr spät sein. Normalerweise gingen die Nachbarn erst zu Bett, wenn sie alle Sterne gezählt hatten. Im Mund hatte ich einen gallebitteren Geschmack, meine Kehle brannte. Ich schob meine Decken beiseite und stand auf. Meine Beine zitterten vor Kälte. Ich ging zum Fenster, drückte die Nase an die Scheibe und wartete auf vorüberhuschende Silhouetten. In jedem Nachtwandler wollte ich meinen Vater erkennen.
    Als Germaine kam, um nach dem Rechten zu sehen, bildete das beschlagene Fenster eine Aureole um mein Gesicht, und mein Körper war völlig verfroren. Sie packte mich schnell wieder ins Bett. Ich verstand nicht, was sie sagte. Ab und zu wurde ihr Gesicht durch das meiner Mutter verdeckt, dann wieder schob sich mein Vater über beider Gesichter und löste in meinem Bauch die furchtbarsten Krämpfe aus.
    Ich weiß nicht, wie lange ich krank gewesen war. Als ich wieder zur Schule gehen konnte, sagte mir Lucette, dass ich mich verändert hatte, dass ich nicht mehr derselbe war. Etwas in mir war zerbrochen.
    Bliss, der Makler, tauchte bei meinem Onkel in der Apotheke auf. Ich hatte ihn gleich an seinem unnachahmlichen Räuspern erkannt. Als er eintrat, machte ich gerade im Hinterzimmer meine Hausaufgaben. Durch einen Schlitz im Vorhang konnte ich ihn beobachten. Er war bis auf die Knochen durchnässt, trug einenalten, geflickten Burnus, der viel zu groß für ihn war, einen grauen, mit Schmutz bespritzten Seroual und Gummisandalen, die schlammige Abdrücke auf dem Boden hinterließen.
    Mein Onkel hob den Kopf von seinen Zahlenkolonnen. Der Besuch des Maklers verhieß nichts Gutes. Bliss wagte sich nur höchst selten ins europäische Viertel. An seinem gehetzten Blick erriet mein Onkel, dass ein unheilvoller Wind in seine Richtung blies.
    »Ja …?«
    Bliss fuhr sich mit der Hand unter die Scheschia und kratzte sich kräftig am Schädel – bei ihm ein Zeichen größter Verlegenheit:
    »Es ist wegen deinem Bruder, Doktor.«
    Mein Onkel klappte im Nu sein Register zu und drehte sich zu mir um. Er sah, dass ich sie beobachtete, ging um den Ladentisch herum, fasste Bliss beim Ellenbogen und nahm ihn zur Seite. Ich kletterte von meinem Hocker herunter und schlich mich zum Vorhang, um besser zu verstehen.
    »Was ist mit meinem Bruder?«
    »Er ist verschwunden …«
    »Wie? Was soll das heißen, verschwunden?«
    »Na ja, er ist nicht mehr nach Hause zurückgekehrt.«
    »Seit wann?«
    »Seit drei Wochen.«
    »Drei Wochen? Und das erfahre ich erst jetzt?«
    »Das ist die Schuld seiner Frau. Du weißt doch, wie sie sind, unsere Frauen, wenn ihre Männer nicht da sind. Sie lassen ihre Wohnung lieber in Flammen aufgehen, als den Nachbarn um Hilfe zu bitten. Ich habe es übrigens heute Morgen von Batoul, der Seherin, erfahren. Die Frau deines Bruders hat sie gestern um Rat gefragt. Sie hat sie gebeten, in ihrer Hand zu lesen, was aus ihrem Mann geworden ist, und so hat Batoul erfahren, dass dein Bruder seit drei Wochen kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hat.«
    »Mein Gott!«
    Ichkehrte schleunigst an meinen Arbeitstisch zurück.
    Als mein Onkel den Vorhang zur Seite schob, fand er mich über mein Gedichtbuch gebeugt.
    »Lauf zu Germaine und sag ihr, sie soll mich in der Apotheke vertreten. Ich habe etwas Dringendes zu erledigen.«
    Ich nahm mein Buch und lief auf die Straße. Im Vorübergehen suchte ich Bliss’ Blick, aber er hatte die Augen abgewandt. Ich rannte los, als hätte ich den Teufel auf den Fersen.
    Germaine hielt es nicht am Platz. Sobald sie einen Kunden abgefertigt hatte, baute sie sich hinter dem Trennvorhang auf und überwachte mich. Sie sorgte sich, weil ich so ruhig war. Von Zeit zu Zeit, wenn sie es gar nicht mehr aushielt, kam sie auf Zehenspitzen näher und schaute mir über die Schulter, während ich Gedichte auswendig lernte. Sie fuhr mir mit der Hand durchs Haar, dann befühlte sie meine Stirn, um zu sehen, ob ich Fieber hätte.
    »Bist du sicher, dass dir nichts fehlt?«
    Ich gab keine Antwort.
    Der allerletzte Blick meines Vaters, den er mir, torkelnd vor Trunkenheit und Scham, neulich zugeworfen hatte, ließ mir keine Ruhe, fraß sich wie ein Wurm durch mein Inneres.
    Seit Stunden war es dunkel, doch mein Onkel ließ noch immer auf sich warten. Auf der Straße, die durch die sintflutartigen Wolkenbrüche leergefegt war, war ein Pferd zusammengebrochen und hatte im Sturz den

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