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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Karren, den es hinter sich herzog, mit umgeworfen. Die Kohleladung hatte sich über die ganze Straße verteilt, und der Fuhrmann, der sein Tier und das schlechte Wetter verfluchte, suchte vergebens nach einer Lösung für sein Problem.
    Hinter der Scheibe betrachteten Germaine und ich das Pferd, das mit umgeknickten Vorderbeinen und ausgerenktem Hals am Boden lag. Seine Mähne trieb im Regenwasser auf den Pflastersteinen.
    Der Fuhrmann war Hilfe holen gegangen und kam mit einer Handvoll Freiwilliger zurück, die dem Unwetter trotzten.
    Einervon ihnen kauerte sich vor das Pferd.
    »Dein Gaul ist tot«, sagte er auf Arabisch.
    »Aber nein, er ist nur ausgerutscht.«
    »Ich sag dir, er ist ganz steif.«
    Der Fuhrmann wollte es nicht wahrhaben. Er kauerte sich ebenfalls vor sein Tier, wagte aber nicht, es anzufassen.
    »Ist nicht möglich. Es ging ihm doch gut.«
    »Tiere können sich nicht beklagen«, antwortete der Helfer. »Du hast wohl zu oft die Peitsche sprechen lassen.«
    Germaine nahm eine Kurbel und ließ das Eisenrollo der Apotheke zur Hälfte herunter. Dann vertraute sie mir ihren Regenschirm an, löschte das Licht und schubste mich ins Freie. Nachdem sie das Vorhängeschloss angebracht hatte, nahm sie mir den Schirm wieder ab, drückte mich an sich, und wir liefen, so schnell es ging, nach Hause.
    Mein Onkel kam erst spätnachts zurück. Der Regen troff ihm aus den Kleidern. Germaine half ihm in der Diele aus Mantel und Schuhen.
    »Warum ist er noch nicht im Bett?«, brummte er und wies mit dem Kinn in meine Richtung.
    Germaine zuckte mit den Schultern und eilte ins Obergeschoss. Mein Onkel musterte mich aufmerksam. Sein nasses Haar glänzte im Licht der Deckenlampe, aber sein Blick war düster.
    »Du solltest längst in deinem Zimmer sein und schlafen. Morgen hast du Schule, wenn ich dich daran erinnern darf.«
    Germaine kam mit einem Bademantel zurück, den mein Onkel sich gleich überzog. Er schlüpfte barfuß in seine Pantoffeln und kam auf mich zu.
    »Bitte, mein Junge. Geh auf dein Zimmer.«
    »Er weiß das mit seinem Vater.« Germaine glaubte, das sei ihm neu.
    »Er hat es vor dir gewusst, aber das ist noch lange kein Grund.«
    »Jedenfalls wird er kein Auge zutun, solange er nicht gehört hat,was du zu erzählen hast. Es geht immerhin um seinen Vater.«
    Mein Onkel missbilligte Germaines letzten Satz und warf ihr einen drohenden Blick zu. Doch Germaine ließ sich nicht beirren. Sie machte sich Sorgen und wusste, es wäre unvernünftig, mir die Wahrheit zu verheimlichen.
    Mein Onkel legte mir beide Hände auf die Schultern:
    »Wir haben überall nach ihm gesucht«, sagte er. »Niemand hat ihn gesehen. Da, wo er sich normalerweise aufhielt, hat man ihn offenbar seit Wochen nicht mehr gesehen. Deine Mutter weiß auch nicht, wo er ist. Sie versteht nicht, warum er gegangen ist … Wir werden weitersuchen. Ich habe den Makler und drei Männer, auf die Verlass ist, beauftragt, die ganze Stadt zu durchkämmen, um eine Spur von ihm zu finden …«
    »Ich weiß, wo er ist«, antwortete ich. »Er ist losgezogen, ein Vermögen zu machen, und wird in einem schönen Auto wiederkommen.«
    Mein Onkel warf Germaine einen fragenden Blick zu, er fürchtete wohl, ich hätte Fieberphantasien. Sie beruhigte ihn mit einem Wimpernschlag.
    Als ich endlich im Bett lag, starrte ich zur Decke und stellte mir meinen Vater vor, wie er irgendwo auf der Welt ein Vermögen scheffelte. Wie in den Filmen, zu denen Lucettes Vater mich am Sonntagnachmittag ins Kino einlud. Germaine kam mehrmals in mein Zimmer, um sich zu vergewissern, ob ich endlich eingeschlafen war. Ich tat so als ob. Sie zupfte an meinem Kopfende herum, befühlte sachte meine Stirn, zog meine Kissen zurecht und verschwand, nachdem sie mich gut zugedeckt hatte. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, warf ich die Bettdecke zur Seite, richtete den Blick erneut zur Decke und verfolgte, gleichsam im Bann einer außergewöhnlichen Vision, die Abenteuer meines Vaters wie auf der Kinoleinwand.
    Bliss, der Makler, kam unverrichteter Dinge mitsamt den drei Männern zurück, die mein Onkel beauftragt hatte, meinen Vaterzu finden. Sie hatten auf den Kommissariaten gesucht, in Krankenhäusern und Bordellen, auf den Mülldeponien und in den Souks, bei Totengräbern und Landstreichern, Säufern, Viehhändlern und Rosstäuschern … Mein Vater hatte sich in Luft aufgelöst.
    Mehrere Wochen nach seinem Verschwinden ging ich, ohne jemandem etwas zu sagen, wieder nach Djenane Djato.

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