Die Schuld des Tages an die Nacht
Ich kannte mich mittlerweile in der Stadt aus und wollte meine Mutter besuchen, ohne Germaine erst um Erlaubnis zu bitten oder von meinem Onkel begleitet zu werden. Meine Mutter hielt mir eine Standpauke. Sie fand, ich hätte dumm und leichtsinnig gehandelt, und nahm mir das Versprechen ab, es nicht noch einmal zu tun. Die Vororte waren von dubiosen Gestalten bevölkert, und ein gutgekleideter Junge konnte jederzeit von den Ganoven, die in den dunklen Gassen ihr Unwesen trieben, auseinandergenommen werden. Ich erklärte, ich habe nur nachsehen wollen, ob mein Vater wieder zu Hause sei. Meine Mutter teilte mir mit, dass man sich um meinen Vater keine Sorgen machen müsse. Batoul, der Seherin, zufolge ginge es ihm blendend, und er sei auch schon dabei, zu Geld zu kommen. »Wenn er wieder da ist, holt er dich gleich bei deinem Onkel ab, dann kommt er zu deiner Schwester und mir und führt uns alle zusammen in ein großes Haus, umgeben von Gärten und zahllosen Obstbäumen.«
Daraufhin schickte sie den ältesten Sohn Badras los, um Bliss, den Makler, zu holen, damit er mich auf der Stelle zu meinem Onkel zurückbrächte.
Dass meine Mutter mir so entschieden die Tür gewiesen hatte, gab mir noch lange zu denken.
Ich hatte das Gefühl, der Ursprung allen Unglücks der Welt zu sein.
7 .
MONATELANG BEKAM ICH NACHTS KEIN Auge zu, bevor ich nicht gewissenhaft die Decke abgesucht hatte. Von links nach rechts. Von vorn nach hinten. Ich streckte mich der Länge nach aus, den Hinterkopf tief im Kissen, und spulte den Film der Widrigkeiten und Fährnisse im Leben meines Vaters in immer neuen, bruchstückhaften Versionen ab. Ich stellte ihn mir als majestätisch posierenden Krösus inmitten seiner Höflinge vor, als Räuber, der ferne Gegenden unsicher macht, als Goldsucher, der mit einem Spatenstich das Nugget des Jahrhunderts an die Sonne befördert, oder als Gentleman-Gangster mit Anzug und Weste, piekfein, mit einer fetten Zigarre im Mundwinkel. Manchmal, wenn mich gerade wieder eine unergründliche Angst befallen hatte, sah ich ihn verwahrlost und volltrunken durch anrüchige Vororte taumeln, von einer Horde lynchfreudiger Bengel verfolgt. Das waren die Nächte, in denen mir ein Schraubstock das Handgelenk quetschte – derselbe Schraubstock wie an jenem Abend, als ich dachte, ich könnte meinem Vater mit dem Verkaufserlös der gefangenen Stieglitze eine Freude machen und mir die Groschen ins Fleisch gepresst wurden.
Das Verschwinden meines Vaters steckte mir wie ein Kloß in der Kehle, ließ sich weder schlucken noch ausspucken. Ich fühlte mich schuldig, weil er so plötzlich untergetaucht war. Mein Vater hätte niemals gewagt, meine Mutter und meine Schwester mittellos zurückzulassen, wenn ich nicht neulich über ihn gestolpert wäre. Er wäre bei Einbruch der Dunkelheit nachDjenane Djato zurückgekehrt und hätte seinen Rausch in einem stillen Winkel ausgeschlafen, ohne die Nachbarn aufzuscheuchen. Seinen Prinzipien war er treu; er hatte sich stets bemüht, die Dinge auseinanderzuhalten. Er sagte immer, man könne wohl sein Vermögen, seinen Grundbesitz und seine Freunde verlieren, seine Chancen und Anhaltspunkte, dennoch bliebe stets eine Möglichkeit, und sei sie noch so gering, sich neu zu erfinden; habe man dagegen das Gesicht verloren, sei jeder Versuch überflüssig, den Rest zu retten.
Mein Vater hatte an jenem Tag zweifellos das Gesicht verloren. Wegen mir. Ich hatte ihn am tiefsten Punkt seines Verfalls erlebt, und das war mehr, als er ertragen konnte. Er hatte sich immer solche Mühe gegeben, mir zu beweisen, dass es eine Frage der Ehre für ihn war, allen Nöten zum Trotz sein Ansehen zu wahren. Der Blick, den er mir vor der Bar in Choupot zugeworfen hatte, während seines jämmerlichen Versuchs, sich auf den Beinen zu halten, hatte anders entschieden … Es gibt Blicke, die sprechen Bände. Sie blättern die gesamte Leidensgeschichte eines Menschen auf. Der Blick meines Vaters war ohne Widerruf.
Ich verübelte es mir, ausgerechnet diese Straße genommen zu haben, ausgerechnet in jenem Moment an der Bar vorübergekommen zu sein, als der »Rausschmeißer« meinen Vater und zugleich meine ganze Welt zu Boden warf; ich verübelte es mir, mich so früh von Lucette verabschiedet, länger als gewöhnlich vor den Auslagen der Geschäfte herumgetrödelt zu haben …
Im Dunkel meines Zimmers brütete ich über meinem Elend, vergeblich nach mildernden Umständen suchend. Ich war so unglücklich, dass ich eines
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