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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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stimmt. Sind die Araber alle faul?«
    Mein Onkel betrachtete mich nachdenklich und strich sich über das Kinn. Die Lage war ernst. Er schuldete mir eine Erklärung.
    Nachdem er sich eine Weile besonnen hatte, kam die Antwort:
    »Wir sind keineswegs faul. Wir lassen uns nur Zeit zum Leben. Das ist bei den Europäern nicht der Fall. Für sie ist Zeit Geld. Für uns hat Zeit keinen Preis. Ein Glas Tee genügt uns zu unserem Glück, während ihnen kein Glück genügt. Das ist der einzige Unterschied, mein Junge.«
    Ich habe nie wieder ein Wort mit Maurice gewechselt, und ich hatte nie mehr Angst vor ihm.
    Und dann kam dieser Tag, noch so ein Tag, der mich, weil ich gerade anfing, das Träumen zu lernen, hinterrücks erwischte.
    Ich hatte Lucette zu ihrer Tante begleitet, einer Hosenschneiderin, deren Atelier sich in Choupot befand, zwei Viertel weiter oben, und ich kehrte zu Fuß nach Hause zurück. Es war ein Oktobermorgen, und die Sonne hing groß wie ein Kür bisam Himmel. Der Herbst entkleidete die Bäume ihrer letzten Fetzen, während der Wind wirbelnd in die Laubhaufen fuhr und die Blätter das Tanzen lehrte.
    Auf dem Boulevard, auf dem Lucette und ich oft von Schaufenster zu Schaufenster bummelten, gab es eine Bar. Ich weiß nicht mehr, welcher Name auf dem Aushängeschild stand, aber ich erinnere mich, dass es ein Treffpunkt für Trunkenbolde war: lärmende, leicht aufbrausende Leute, die oft erst der Polizeiknüppel zur Vernunft brachte. Als ich auf Höhe der Bar ankam, brach ein heftiger Streit aus. Auf lautstarke Flüche folgte das Geräusch umstürzender Tische und Stühle, und ich sah, wie ein kräftiger Kerl wütend einen Bettler an Hals und Hosenboden packte und unsanft über die Treppe ins Freie beförderte. Der arme Teufel fiel mir direkt vor die Füße, mit einem Geräusch, als wär’s ein Heubündel. Er war sturzbesoffen.
    »Lass dich ja nie wieder blicken!«, brüllte der Barkeeper ihn vom Treppenabsatz aus an. »Du hast hier nichts mehr verloren!«
    Der Barkeeper kehrte ins Lokal zurück und kam mit einem ausgelatschten Schuh wieder heraus.
    »Und vergiss deine Babusche nicht, du Possenreißer. Damit rennst du noch schneller in dein sicheres Verderben.«
    Der Bettler duckte sich, als der Schuh ihm über den Kopf zischte. Da er mir den Weg versperrte, wie er da der Länge nach auf dem Bürgersteig lag, und ich nicht recht wusste, ob ich nur einen Bogen um ihn machen oder gleich die Straßenseite wechseln sollte, blieb ich wie angewurzelt stehen.
    Der Bettler lag schniefend am Boden, das Gesicht im Staub, den Turban im Nacken. Er wandte mir den Rücken zu. Seine Hände suchten fieberhaft nach Halt, aber er war zu betrunken, um sich aufzustützen. Nach längerem Hin und Her gelang es ihm schließlich, sich aufzusetzen, er tastete nach seinem Schuh, zog ihn an, rückte seinen Turban zurecht und wickelte ihn sich ungeschickt ums Haupt.
    Erverströmte einen üblen Geruch. Ich glaube, er hatte sich vollgepinkelt.
    Schwankend, sich mit einer Hand auf den Boden stützend, um nicht erneut zusammenzusacken, suchte er mit der anderen nach seinem Stock, entdeckte ihn unweit des Rinnsteins und robbte bäuchlings auf ihn zu. Plötzlich wurde er sich meiner Gegenwart bewusst und erstarrte. Als er den Kopf zu mir hob, entgleisten ihm die Züge.
    Es war mein Vater!
    Mein Vater … der imstande war, Berge zu versetzen, die Ungewissheit in die Knie zu zwingen, dem Schicksal den Hals umzudrehen! Da lag er, auf dem Gehweg, vor meinen Füßen, in stinkende Lumpen gewickelt, mit aufgedunsenem Gesicht und sabbernden Lippen, und sein blauer Blick so schaurig wie die blauen Flecken in seinem Gesicht! Ein Wrack … eine Elendsfigur … die reinste Tragödie!
    Er sah mich an, als wäre ich ein Geist. Seine triefenden, verquollenen Augen trübten sich, und sein Gesicht zerknitterte wie altes Packpapier in den Händen eines Lumpenhändlers.
    »Younes?«, entfuhr es ihm.
    Das war kein Aufschrei … eher ein verhaltenes Glucksen, auf halbem Weg zwischen tonlosem Ausruf und Schluchzer …
    Ich war wie betäubt.
    Jäh wurde ihm der Ernst der Lage bewusst, und er versuchte, aufzustehen. Das Gesicht vor Anstrengung verzerrt, stützte er sich auf seinen Stock, ohne mich aus den Augen zu lassen, und hievte sich hoch, darauf bedacht, nicht den leisesten Seufzer von sich zu geben. Aber seine Knie ließen ihn im Stich, und kläglich fiel er in den Rinnstein. Für mich stürzte so etwas wie mein Luftschloss ein, all die Versprechen von

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