Die Schuld des Tages an die Nacht
Abends sogar die Engelsstatue, die mich in der ersten Nacht bei meinem Onkel so erschreckt hatte, aus der Abstellkammer holte. Ich entdeckte sie ganz unten in einer mit altem Kram vollgestopften Kiste, staubte sie ab und stellte sie an ihren ursprünglichen Platz auf dem Kaminsims, meinem Bett gegenüber. In der Gewissheit, sie würde früher oder später die Flügel ausbreiten und sich zu mir drehen, schauteich sie unverwandt an … Nichts. Reglos und stumm verharrte sie auf ihrem Sockel, unnahbar und nutzlos, und vor Sonnenaufgang brachte ich sie schließlich wieder in ihre muffige Kiste zurück.
»Gott ist böse!«
»Gott kann nichts dafür, mein Junge«, hatte mein Onkel erwidert. »Dein Vater ist gegangen, Punkt. Dazu hat ihn weder der Teufel genötigt noch hat der Erzengel Gabriel ihn bei der Hand genommen. Er hat versucht durchzuhalten, so gut es ging, und irgendwann verließ ihn die Kraft. So einfach ist das. Das Leben besteht aus Höhen und Tiefen, und kein Mensch vermag zu sagen, wo die goldene Mitte ist. Wir sind nicht einmal gehalten, die Schuld bei uns selbst zu suchen. Das Unglück, das uns trifft, denkt nicht lange nach. Es schlägt zu wie der Blitz, und es verschwindet wie der Blitz, ohne sich noch einmal umzusehen, ohne auch nur zu ahnen, welche Dramen es über uns heraufbeschwört. Wenn du weinen willst, dann weine; wenn du hoffen willst, dann bete, aber suche keinen Schuldigen, nur weil dein Schmerz dir sinnlos erscheint.«
Ich betete und weinte, im Lauf des Jahres erlosch die Leinwand über meinem Kopf, und die Decke gewann ihr banales Aussehen zurück. Es führte zu nichts, sich in den eigenen Hirngespinsten zu verlieren. Ich ging wieder zur Schule, Hand in Hand mit Lucette. Die Legionen von Kindern ringsum trugen schließlich auch keine Schuld. Es waren Kinder, einfach nur Kinder, dem Missgeschick ausgeliefert und vom Leben bestraft für Dinge, die sie nicht zu verantworten hatten, und sie fanden sich damit ab. Sie stellten sich lieber nicht allzu viele Fragen, weil die Antwort oft nichts Gutes brachte.
Mein Onkel empfing weiterhin seine geheimnisvollen Gäste. Sie trafen einzeln ein, mitten in der Nacht, schlossen sich stundenlang im Wohnzimmer ein und rauchten wie die Schlote. Der Nikotingeruch verpestete das ganze Haus. Der Ablauf ihrer Zusammenkünfte war stets der gleiche: anfangs gedämpft, vonnachdenklichem Schweigen durchsetzt, dann von aufbrausender Leidenschaft, welche die Nachbarn zu wecken drohte. Mein Onkel machte jedes Mal von seinem Hausrecht Gebrauch, um die Gemüter wieder zu versöhnen. Wenn sich kein Kompromiss aushandeln ließ, gingen die Gäste in den Garten, um frische Luft zu schnappen. Ihre Zigaretten glühten zornig in der Dunkelheit. Wenn die Versammlung zu Ende war, gingen sie auf leisen Sohlen davon, jeder für sich, und sie blickten sich vorsichtig um, bevor sie in der Nacht verschwanden.
Am folgenden Morgen traf ich meinen Onkel in seinem Arbeitszimmer an, wo er endlose Einträge in ein großes Notizbuch machte.
An einem dieser Abende, der nicht wie die anderen war, erlaubte mein Onkel mir, zu seinen Gästen ins Wohnzimmer zu kommen. Er stellte mich ihnen voller Stolz vor. Ich erkannte einige Gesichter wieder, aber die Stimmung war weniger angespannt als sonst, fast feierlich. Nur einer der Anwesenden ergriff das Wort. Als er den Mund öffnete, hingen die Gefährten an seinen Lippen und sogen seine Worte mit Hochgenuss auf. Es handelte sich um einen bedeutenden Gast von charismatischer Ausstrahlung, für den mein Onkel große Bewunderung hegte … Erst sehr viel später, als ich sein Bild in einem politischen Magazin entdeckte, fand ich den Namen heraus; es war Messali Hadj, die Galionsfigur der algerischen Nationalbewegung.
In Europa brach der Krieg aus. Gleich einem Geschwür.
Polen fiel dem Ansturm der Nazis mit bestürzender Leichtigkeit zum Opfer. Die Menschen hatten mit leidenschaftlichem Widerstand gerechnet, stattdessen gab es nur ein paar jämmerliche Scharmützel, die von den Hakenkreuzpanzern umgehend beendet wurden. Der Blitzsieg der deutschen Truppen löste ebenso viel Entsetzen wie Faszination aus. Die Aufmerksamkeit der meisten wandte sich schlagartig dem Norden zu und konzentrierte sich auf das Geschehen auf der anderen Seite des Mittelmeers. Die Nachrichten waren nicht gut; das Gespensteines Weltbrandes ging um. Nicht einen Müßiggänger traf man im Straßencafé, der nicht mit sorgenvoller Miene über seiner Zeitung saß. Die Passanten
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