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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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blieben auf der Straße stehen, riefen einander dies und jenes zu, schwärmten aus, um auf der Parkbank oder am Bistrotresen dem Abendland auf seiner rasanten Talfahrt den Puls zu fühlen. Und in der Schule begannen die Lehrer, uns ein wenig zu vernachlässigen. Morgens rückten sie mit Unmengen neuer Meldungen und Fragen an, abends rückten sie mit denselben Fragen und Befürchtungen wieder ab. Der Direktor hatte sogar ein Rundfunkgerät in seinem Büro und verbrachte den Großteil des Tages damit, Nachrichten zu hören, statt sich um die Strauchdiebe zu kümmern, die sich in diesen unruhigen Zeiten kurioserweise mehr als sonst im Schulhof herumtrieben.
    Sonntags nach der Messe ging Germaine nicht mehr mit mir aus. Sie verzog sich in ihr Zimmer, kniete vor einem Kruzifix nieder und psalmodierte endlose Litaneien. Sie hatte zwar keine Familie in Europa, aber sie betete inbrünstig dafür, dass die Weisheit den Wahnsinn besiegen möge.
    Auch mein Onkel setzte sich immer häufiger ab, machte sich mit einer Aktentasche voller Flugblätter und einem Stapel von Manifesten unterm Mantel auf den Weg. Also hielt ich mich an Lucette. Beim Spielen vergaßen wir alles ringsum, bis eine Stimme uns daran erinnerte, dass es Zeit sei, essen oder schlafen zu gehen.
    Der Vater von Lucette hieß Jérôme und war Ingenieur in einer Fabrik in der Nähe unseres Viertels. Bald in seine Fachbücher, bald in Schuberts Musik vertieft, die er auf seinem alten Sofa vor einem leiernden Grammophon hörte, machte er sich nicht die Mühe, nach uns zu sehen. Er war lang und hager, gänzlich hinter einem Brillengestell verschanzt und schien in einer passgenauen Luftblase zu leben. Er war peinlich auf Abstand zu allem und jedem bedacht, einschließlich des Krieges, der sich anschickte, den Planeten roh zu verschlingen. Sommers wie winters trug er das gleiche Khakihemd mit Schulter stückenund großen Brusttaschen, aus denen alle möglichen Stifte ragten. Jérôme sprach nur, wenn man ihm Fragen stellte, und wenn er antwortete, klang seine Stimme stets eine Spur gereizt. Seine Frau hatte ihn einige Jahre nach Lucettes Geburt verlassen, das musste ihn schwer getroffen haben. Sicher, ich habe nie erlebt, dass er Lucette einmal etwas abschlug, aber er nahm sie auch nie in die Arme, um sie an sich zu drücken. Im Kino, wo er uns mit Stummfilmserien fütterte, hätte man schwören können, er löse sich in nichts auf, sobald die Lichter ausgingen. Manchmal fürchtete ich mich richtig vor ihm, vor allem, seit er meinem Onkel beiläufig erklärt hatte, er sei Atheist. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass es solche Menschen gab. Um mich herum gab es nur Gläubige, mein Onkel war Muslim, Germaine Katholikin, unsere Nachbarn Juden oder Christen. In der Schule wie im ganzen Viertel war Gott in aller Herzen und Munde, und ich fragte mich, wie Jérôme ohne Ihn auskam. Ich hatte einmal gehört, wie er einem Missionar, der ihn bekehren wollte, eine Abfuhr erteilte: »Jeder Mensch ist sein eigener Gott. Wer sich einen anderen Gott sucht, verleugnet sich selbst und wird ungerecht und blind.« Der Missionar sah ihn an, als stünde Satan höchstselbst vor ihm.
    An Himmelfahrt nahm er uns beide, Lucette und mich, auf den Murdjadjo mit, um die Stadt vom Berg aus zu betrachten. Wir hatten als Erstes die mittelalterliche Festung besichtigt und uns dann den Pilgerscharen angeschlossen, die um die SantaCruz-Kapelle kreisten. Es waren Hunderte von Frauen, Greisen und Kindern, die sich zu Füßen der Statue der Heiligen Jungfrau drängten. Manche waren den Berg barfuß emporgeklettert und hatten sich am Ginster und am Gestrüpp festgehalten, andere waren auf den Knien hochgerutscht und hatten sie sich blutig geschrammt. Dieses bunte Völkchen schwankte unter der bleiernen Sonne einher, die Augen verdreht, die Mienen erschöpft, und flehte sämtliche Heiligen und den Herrgott an, ihr armseliges Leben zu verschonen. Lucette erklärte uns, dass die Gläubigen alle Spanier seien, die sich wie jedes Jahr an Him melfahrtkasteiten, um der Jungfrau dafür zu danken, dass sie die Altstadt von Oran von der Cholera verschont hatte, die im Jahr 1849 Tausende von Familien dahingerafft hatte.
    »Aber sie tun sich doch entsetzlich weh«, antwortete ich, schockiert vom Ausmaß der Marter.
    »Das tun sie für Gott«, erklärte Lucette voll Inbrunst.
    »Gott hat sie um nichts gebeten!«, beendete Jérôme mit einer Stimme, die wie ein Peitschenhieb klang, das Gespräch.
    Augenblicklich

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