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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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einer Parallelwelt. Bertrand, der sehr erfahren schien, beschleunigte den Schritt, sobald eine Stichelei uns traf oder ein scheeler Blick an unserer guten Kleidung hängen blieb. Hier und da huschten ein paar geschäftige Rumis umher, oder Muslime im europäischen Anzug, mit Fes auf dem Kopf, doch man spürte es deutlich, da braute sich etwas zusammen, unabwendbar wie ein dräuendes Gewitter. Von Zeit zu Zeit stießen wir auf lärmendes Gerangel, das sich in einer Schlägerei entlud oder jäh einem verlegenen Schweigen wich. Die Not war immens, und die Geduld aufgebraucht. Der scheppernde Tanz der buntgewandeten Wasserverkäufer, die sich schellenbimmelnd im Kreise drehten, kam gegen die bösen Einflüsterungen nicht an.
    Das menschliche Leid war einfach zu groß.
    Djenane Djato brach unter der Last der geplatzten Träume zusammen. Kleine Buben taumelten, sich selbst überlassen, hinter den älteren Brüdern her, schwindlig vor Hunger und Hitze, lauter Tragödien, die in freier Wildbahn ihren Lauf nahmen. Widerlich schmutzig und aggressiv, rannten sie barfuß hinter den Lastern her, klammerten sich an ihnen fest, flitzten im Slalom auf ihren caricous zwischen Karren und Fuhrwerken umher, leichtfertig und ausgelassen und dem Tod umso näher, je mehr Tempo sie machten. Hier und da balgten sie sich oder vergnügten sich mit einem Fußball aus Stoffresten. Ihre Spiele konnten einem Angst und Bange machen mit ihrem aufgeputschten, fast schon selbstmörderischen Elan.
    »Dasist wenigstens mal was anderes als Río Salado, oder?«, scherzte Bertrand, aber wohl mehr, um sich selbst Mut zu machen.
    Sein Lächeln hielt nicht lange vor, die Angst rieselte ihm regelrecht vom Gesicht. Ich hatte auch Angst, aber der Knoten in meinen Eingeweiden löste sich wie von Zauberhand in der Sekunde, als ich Holzbein erkannte, der auf der Schwelle zu seinem Laden stand.
    Als er mich sah, zog er die Augenbrauen hoch, genau wie bei meinem letzten Besuch, verdutzt und erfreut zugleich.
    »Kannst du mir nicht mal verraten, wo dein guter Stern logiert, Blauauge?«, rief er mir zu und stützte sich auf einen Ellenbogen. »Falls es wirklich einen Gott gibt, wieso blickt der dann nie auf uns?«
    »Keine Gotteslästerung!«, schimpfte der Barbier, den ich unter seinem Plunder völlig übersehen hatte. »Vielleicht wendet Er uns nur den Rücken zu, weil Er deinen Anblick nicht erträgt.«
    Der Barbier hatte sich nicht verändert. Nur der Rasierklingenschmiss, der sich quer über sein Gesicht zog, war neu.
    Er achtete nicht weiter auf mich.
    Djenane Djato war im Umbruch, aber ich wusste nicht, in welche Richtung es ging. Die Wellblechhütten, die sich hinter dem Kreuzdorndickicht duckten, waren verschwunden. An ihrer Stelle erstreckte sich eine riesige, vollständig bereinigte dunkelrote Fläche, durch die sich vergitterte Gräben zogen. Das war das Fundament für die große Eisenbahnbrücke, die sich hier bald erheben sollte. Hinter unserem Patio, da, wo die Ruine eines uralten Streckenwärterhäuschens vor sich hin bröckelte, begann eine gigantische Fabrik im Schutz ihres Bretterzauns in den Himmel zu wachsen.
    Holzbein deutete mit dem Daumen auf sein Bonbonglas.
    »Na, Kleiner, wie wär’s?«
    »Nein, danke.«
    Ein Hippenbäcker, der unter einer vorsintflutlichen Gas laternehockte, einen Kanister vom Schrottplatz umgehängt, klapperte mit seinem Waffeleisen. Er bot uns zusammengerollte Waffeln an, doch sein flackernder Blick jagte uns einen Schauder über den Rücken.
    Bertrand schob mich vorsichtig vor sich her. Keines der vielen Gesichter ringsum, keiner der Schatten schien ihm vertrauenswürdig.
    »Ich warte draußen«, sagte er, als wir am Patio ankamen. »Lass dir nur Zeit.«
    Gegenüber vom Patio, da, wo früher Ouaris Voliere stand, war jetzt ein richtiges Haus mit einer kleinen Steinmauer; sie verlief links entlang des Weges, der früher unser Pfad ins Brachland war, dorthin, wo die Strolche mich damals fast gelyncht hätten.
    Mir schossen Erinnerungen an die Zeit mit Ouari durch den Kopf. Ich sah ihn vor mir, wie er mir beibrachte, Stieglitze zu fangen, und fragte mich, was wohl aus ihm geworden war.
    Badra kniff die Augen zusammen, als sie mich in den Hof eintreten sah. Sie war beim Wäscheaufhängen, hatte den Saum ihres Kleides an ihrem Gürtel oder genauer der bunten Kordel, die ihr als Gürtel diente, befestigt und zeigte ihre nackten Beine bis zum Schenkelansatz. Sie stemmte die Hände in ihre kolossalen Hüften und stellte sich

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