Die Schuld des Tages an die Nacht
schien eine unsichtbare Bürde zu lasten. Er hielt mir demütig das Paket hin.
»Ich möchte dich um Verzeihung bitten«, sagte er.
Als ich zögerte, das Paket zu nehmen, denn ich fürchtete schon den nächsten üblen Streich, legte er es mir in die Hände.
»Es ist ein Holzpferd. Mir bedeutet es eine Menge. Heute schenke ich es dir. Nimm es an, wenn du mir verzeihst.«
Fabrice warf mir einen aufmunternden Blick zu.
Als Jean-Christophe seine Hand zurückzog und sah, dass sein Geschenk sicher in der meinen lag, flüsterte er mir zu:
»Und danke, dass du mich nicht verpetzt hast.«
Es war der Beginn einer wunderbaren Viererfreundschaft, einer der schönsten Freundschaften meines ganzen Lebens.
Später sollte ich erfahren, dass Isabelle, empört über Jean-Christophes unselige Aktion, von ihm verlangt hatte, sich bei mir zu entschuldigen, und zwar unter Zeugen.
Unser erster Sommer in Río Salado ließ sich schlecht an. Am 3. Juli 1940 wurde das Land durch die »Operation Catapult« erschüttert, in deren Verlauf das britische Geschwader »Force H« die französischen Kriegsschiffe bombardierte, die in Mers el-Kébir, dem französischen Flottenstützpunkt unweit Oran, stationiert waren. Drei Tage später besorgten die Flugzeuge Ihrer Majestät den Rest, noch bevor wir Zeit hatten, das Ausmaß der Katastrophe auch nur ansatzweise zu erkennen.
Germaines Neffe, Koch auf dem Panzerkreuzer Dunkerque , war einer der 1297 Seeleute, die bei diesen Angriffen ums Leben kamen. Mein Onkel, der allmählich in eine Art chronischen Autismus versank, weigerte sich, zur Beerdigung mitzukommen, und so mussten wir, Germaine und ich, ohne ihn dorthin.
Bei unserer Ankunft stand Oran unter Schock. Die ganze Stadt drängte sich an der Meerespromenade zusammen, fassungslos angesichts des alptraumhaften Treibens rings um den brennenden Marinestützpunkt. Manche Schiffe und Gebäude waren gleich beim ersten Angriff in Flammen aufgegangen, undder dichte schwarze Rauch, der von ihnen aufstieg, erstickte die Stadt und verhüllte den Berg. Die Menschen waren entsetzt und empört, umso mehr, als die getroffenen Schiffe infolge des zwei Wochen zuvor unterzeichneten Waffenstillstands teils schon abgerüstet hatten. Der Krieg, von dem man nie gedacht hätte, er könne je die Mittelmeerküste erreichen, stand nun vor den Toren der Stadt. Auf Entsetzen und Aufregung folgte das blanke Delirium. Es schossen die wildesten Spekulationen ins Kraut, es wucherten die phantastischsten Schauermärchen. Man fing an, vom Überfall der Deutschen zu munkeln, von nächtlichen Fallschirmabsprüngen im Hinterland, von unmittelbar bevorstehenden Landemanövern, von neuen massiven Bombardements, die diesmal die Zivilbevölkerung im Visier hätten und ganz Algerien in den Strudel des Orkans ziehen würden, der Europa gerade in die Steinzeit zurückwarf.
Ich sehnte mich nach Río zurück.
Nach den Trauerfeierlichkeiten gab Germaine mir etwas Geld und erlaubte mir, nach Djenane Djato zu gehen. Bertrand, einer ihrer Neffen, sollte mich begleiten und mich heil und wohlbehalten von der »Expedition« zurückbringen.
Auf den ersten Blick schon kam mir Djenane Djato völlig verändert vor. Die Stadt hatte sich ausgedehnt und die Elendsviertel und Nomadenbiwaks in Richtung Petit Lac abgedrängt. Das Macchia-Gestrüpp wich mehr und mehr vor dem Vormarsch des Stahlbetons zurück, und anstelle der Lichtungen, wo sich einst Müllberge türmten und Banditen dir am helllichten Tag das Messer an die Kehle setzten, breiteten sich Baustellen mit ausufernden Materiallagern aus. Anstelle des Souks ragten mitten im Dickicht die Festungsmauern einer Militärgarnison oder eines Zivilgefängnisses in die Höhe. Unentwirrbare Menschenknäuel belagerten die Anlaufstellen der Arbeitsvermittler, die zum Teil nur aus einem einsamen Tisch am Fuß eines Schrottberges bestanden … Dennoch war das Elend allgegenwärtig, mit Händen zu greifen, nicht kleinzukriegen; eshielt allem stand, selbst den himmelstürmendsten städtebaulichen Projekten. Die immer gleichen siechen Silhouetten schleppten sich im Schatten der Wände entlang, die immer gleichen Lumpengestalten schnarchten in ihren Pappkartons; die Verkommensten von allen schoben vor verrotteten Imbissbuden Kohldampf und tauchten ihr trocken Brot in den Garküchenduft: Aschegesichter mit geronnenem Blick, wie Mumien in ihren Burnus geschnürt. Als wir vorbeigingen, sahen sie uns an, als wären wir die verkörperte Zeit, Eindringlinge aus
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