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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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jeder Taschenspieler hatte die Hand meiner Mutter die paar Scheine gekrallt und sie zum Verschwinden gebracht. Sie schob mich in unseren Verschlag. Erst, als wir vor fremden Blicken sicher waren, holte sie das Geld hervor und zählte es ein ums andere Mal, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte. Ich schämte mich dafür, sie so fiebern zu sehen, schämte mich für ihr zerzaustes Haar, das offenbar seit Urzeiten keinen Kamm mehr gesehen hatte, schämte mich für ihren völlig verschlissenen Haik, der wie eine alte Gardine über ihren schmächtigenSchultern hing, schämte mich für den Hunger und die Not, die sie verunstalteten, sie, die einst so strahlend schön war wie der junge Tag.
    »Das ist viel Geld«, stellte sie fest. »Kommt das von deinem Onkel?«
    Da ich fürchtete, sie könne genauso ablehnend reagieren wie damals mein Vater, schwindelte ich sie an:
    »Das sind meine eigenen Ersparnisse.«
    »Du arbeitest?«
    »Ja.«
    »Du gehst nicht mehr zur Schule?«
    »Doch.«
    »Ich will nicht, dass du von der Schule gehst. Ich will, dass aus dir ein Gelehrter wird, und dass du bis ans Ende deiner Tage sorglos lebst. Hast du mich verstanden? Ich will , dass deine Kinder später nicht wie junge Hunde krepieren müssen.«
    In ihren Augen brannten tausend Feuer, als sie mich bei den Schultern packte.
    »Versprich mir das, Younes. Versprich mir, dass du ebenso viele Diplome wie dein Onkel haben wirst, und ein richtiges Haus, und einen angesehenen Beruf.«
    Ihre Finger gruben sich so tief in mein Fleisch, dass sie mir fast die Knochen quetschten.
    »Ich verspreche es dir. Wo ist eigentlich Zahra?«
    Sie wich einen Schritt zurück, war auf der Hut, dann fiel ihr wohl ein, dass ich ihr Sohn war und keine neidische, missgünstige Nachbarin, und sie flüsterte mir ins Ohr:
    »Sie lernt einen Beruf. Sie wird Hosennäherin. Ich habe sie bei einer Schneiderin in der europäischen Stadt angemeldet. Ich will, dass sie es auch zu etwas bringt.«
    »Ist sie denn wieder gesund?«
    »Sie war nicht krank. Auch nicht verrückt. Sie ist nur taubstumm. Aber sie lernt schnell, hat die Schneiderin mir gesagt. Eine gute Frau ist das. Dreimal die Woche kann ich für sie arbeiten. Ich mache den Haushalt. Ob ich hier oder bei den anderenputze, das ist doch egal. Und schließlich muss man ja von etwas leben.«
    »Warum kommt ihr nicht einfach mit zu uns, nach Río Salado?«
    »Nein!«, schrie sie auf, als hätte ich etwas Anstößiges gesagt. »Ich rühre mich nicht von hier weg, solange dein Vater nicht zurückgekehrt ist. Stell dir nur mal vor, er kommt zurück und findet uns nicht dort, wo er uns zurückgelassen hat. Wo soll er uns denn suchen? Wir haben weder Familie noch Freunde in dieser Menschenfresser-Stadt. Und wo liegt überhaupt dieses Río Salado? Es käme deinem Vater doch gar nicht in den Sinn, dass wir Oran verlassen haben könnten … Nein, ich werde hier im Patio bleiben, bis er zurück ist.«
    »Vielleicht ist er ja schon tot …«
    Sie packte mich an der Kehle und stieß meinen Kopf gegen die Wand.
    »Du bist ja verrückt! Wie kannst du nur? Batoul, die Seherin, hat gar keine Zweifel. Sie hat es mehrfach aus den Zeichen gelesen, aus den Linien in meiner Hand und den Wirbeln im Wasser. Dein Vater ist gesund und munter. Er ist dabei, ein Vermögen zu scheffeln, und kommt als reicher Mann zu uns zurück. Wir werden ein schönes Haus haben, mit einer prächtigen Vortreppe, einem Gemüsegarten und einer Garage für das Auto, als Wiedergutmachung für alles Elend. Und wer weiß? Vielleicht kehren wir sogar auf unsere Ländereien zurück, holen uns Elle um Elle und Zoll für Zoll all die Freuden zurück, die man uns einst zu verpfänden zwang.«
    Sie sprach schnell, meine Mutter, rasend schnell. Mit bebender Stimme. Und einem eigentümlichen Funkeln im Blick. Ihre Hände zeichneten fieberhaft Illusionen in die Luft. Hätte ich damals gewusst, dass sie zum letzten Mal im Leben mit mir sprach, hätte ich ihre Luftschlösser ernst genommen und wäre noch geblieben. Aber wie hätte ich das wissen können?
    Und wieder war sie es, die mich drängte zu gehen, mich zu meinen Adoptiveltern zurückschickte.

9 .
    MAN NANNTE UNS DIE Forkenzinken.
    Wir waren unzertrennlich.
    Der Älteste, Jean-Christophe Lamy, mit sechzehn schon ein Riese, war der Chef. Er war strohblond und besaß das Lächeln des geborenen Charmeurs; fast alle Mädchen von Río Salado schwärmten für ihn. Aber seitdem Isabelle Rucillio ihn zu ihrem vorläufigen

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