Die Schuld des Tages an die Nacht
»Verlobten« erkoren hatte, hielt er sich zurück.
Fabrice Scamaroni war zwei Monate jünger als ich und ein phantastisch lieber Kerl. Er war großzügig, hatte den Kopf ständig in den Wolken und wollte am liebsten Schriftsteller werden. Seine Mutter, eine junge, etwas überkandidelte Witwe, besaß Geschäfte in Río und Oran. Sie lebte ihr Leben, wie es ihr gefiel, und war die einzige Frau weit und breit, die einen Wagen fuhr. Die Leute zerrissen sich über sie das Maul, bis ihnen die Spucke wegblieb. Madame Scamaroni war das egal. Sie war schön. Reich. Unabhängig. Was wollte sie mehr …? Im Sommer packte sie uns alle vier auf den Rücksitz ihres Citroëns, einer robusten Sechszylinderlimousine mit Vorderradantrieb, die es auf fünfzehn Pferdestärken brachte, und fuhr mit uns an den Strand, nach Terga-Plage. Nach dem Baden zauberte sie ein Picknick aus dem Ärmel und verwöhnte uns mit schwarzen Oliven, Lammspießchen und auf der Holzkohlenglut gegrillten Sardinen.
Dann war da noch Simon Benyamin, einheimischer Jude, wieich fünfzehn Jahre alt, dicklich, untersetzt, dazu jede Menge krummer Touren auf Lager. Ein lustiger Kerl, eher skeptisch, weil er schon viel hatte einstecken müssen, aber durchaus liebenswert, wenn er sich Mühe gab. Er träumte von einer Kino- oder Theaterkarriere. Seine Familie war in Río nicht sonderlich angesehen. Sein Vater war der geborene Pechvogel. Alles, was er anfing, ging schief, so dass er am Ende bei aller Welt Schulden hatte, sogar bei den Erntearbeitern.
Simon und ich steckten die meiste Zeit über zusammen. Wir wohnten nur einen Steinwurf voneinander entfernt, und er kam jeden Tag erst bei mir vorbei, bevor wir zu Jean-Christophe auf den Hügel gingen. Dieser Hügel war unser Hauptquartier. Wir trafen uns gern unter dem jahrhundertealten Olivenbaum oben auf der Kuppe und sahen auf das in der Hitze flirrende Río herab. Fabrice stieß immer als Letzter dazu, einen Korb Sandwiches mit koscherer Wurst, eingelegter Paprika und frischem Obst unterm Arm. Die halbe Nacht saßen wir dort, schmiedeten die verwegensten Pläne und ließen uns von Jean-Christophe in allen Einzelheiten erzählen, welche Schikanen Isabelle Rucillio sich wieder für ihn ausgedacht hatte. Zwischendurch machte Fabrice uns ganz benommen mit seiner überbordenden Prosa und Lyrik, reihte Vokabeln aneinander, wie nur er sie im Wörterbuch auszugraben verstand.
Manchmal, wenn uns gerade danach war, duldeten wir auch die Anwesenheit anderer Kameraden, allen voran die der Sosa-Cousins: José, der arme Verwandte des Clans, der mit seiner Mutter in der Dienstbotenkammer hauste und sich früh wie spät von Gazpacho ernährte, und André, genannt Dédé, der sich als würdiger Sohn seines Vaters, des unbeugsamen Jaime Jiménez Sosa, erwies, der eines der bedeutendsten Landgüter der Gegend besaß. André war eine Art Tyrann, schonungslos gegenüber seinen Angestellten, aber charmant zu seinen Freunden. Er war ein verwöhntes Kind und sagte oft die schlimmsten Dinge, ohne sich ihrer Wirkung bewusst zu sein. Ich konnte es ihm nie übelnehmen, obwohl er ständig gegen die Araber wet terte.Mir gegenüber war er eher zuvorkommend. Er lud mich genauso oft wie meine Freunde zu sich nach Hause ein, ohne den leisesten Unterschied, nur dass er sich nicht genierte, in meiner Gegenwart die Muslime zu schikanieren, als sei das ganz natürlich. Sein Vater herrschte wie ein Sonnenkönig über seine Scholle, auf der er die unzähligen muslimischen Familien, die für ihn ackerten, wie Vieh einpferchte. Mit seinem Tropenhelm, der Reitpeitsche und den Reitstiefeln verwachsen, ließ Jaime Jiménez Sosa, der Vierte seines Namens, aber der Erste, der morgens aufstand, und der Letzte, der abends zu Bett ging, seine »Sträflinge« bis zum Umfallen schuften, und wehe dem, der simulierte! Er brachte seinen Reben eine grenzenlose Verehrung entgegen und betrachtete jedes unerlaubte Betreten seiner Felder als Entweihung. Man erzählte sich, er habe einmal eine Ziege erlegt, die es gewagt hatte, an seinen Trauben zu knabbern, und auf die törichte Hirtin geschossen, die versucht hatte, das Tier zu retten.
Es war eine seltsame Zeit.
Was mich betraf, nahmen die Dinge ihren Lauf, und ich reifte zum Mann. Ich war schon dreißig Zentimeter in die Höhe geschossen, und wenn ich mir mit der Zunge über die Lippen fuhr, spürte ich den ersten feinen Flaum.
Den Sommer 1942 verbrachten wir am Strand und ließen uns die Sonne auf den Bauch scheinen.
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