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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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die Ecke gebogen, rüsteten wir zum Sturm auf die Stadt. Unser war die Place d’Armes mitsamt dem Rathaus, vor dem zwei kolossale Bronzelöwen würdevoll Wache schoben, und dem Theater im Rokoko-Stil; die Promenade de l’Étang, die Place de la Bastille, die Passage Clauzel, in der sich die Liebespärchen trafen; die Eis-Kioske, an denen man die erfrischendste Zitronade der Welt bekam; die Prachtkinos und die Darmon-Kaufhäuser … Oran fehlte es an nichts, weder an Charme noch an Verwegenheit. Die Stadt sprühte vor Lebenslust wie ein Feuerwerk, verwandelte jeden fröhlichen Zuruf in lautes Gelächter, jeden Schwips in ein spontanes Fest. Vor lauter impulsiver Großherzigkeit kam es ihr gar nicht in den Sinn, ihre Freude für sich zu behalten,statt sie zu teilen. Oran verabscheute alles, was keinen Spaß mit sich brachte. Triste Mienen verletzten ihren Stolz, Sauertöpfe verdarben ihr die Stimmung. Die Stadt ertrug kein einziges Wölkchen, das ihre naive Herzlichkeit trübte. Am liebsten wartete sie an jeder Straßenecke mit einer glücklichen Begegnung auf und auf ihren Esplanaden mit quirligem Leben, und wo immer ihre Stimme erklang, erklang eine Hymne auf das Leben. Sie erhob den Frohsinn zur Leitlinie, zur Lebensart, ohne den alles in der Welt Vergeudung wäre. Hübsch und kokett und sich der Faszination, die sie auf Fremde ausübte, durchaus bewusst, wurde sie unversehens und ohne viel Trara immer bürgerlicher, überzeugt, dass kein Sturm – noch nicht einmal der Krieg, dessen schmutzige Spritzer sie gerade abbekommen hatte – ihren Aufschwung zu stoppen vermochte. Oran war aus dem Drang zu verführen geboren und bestand in erster Linie aus Imponiergehabe – le chiqué . Man nannte sie la ville américaine, die amerikanische Stadt, und sämtliche Launen der Welt flossen in ihre Stimmung ein. Aufrecht auf ihrem Steilfelsen schaute sie in scheinbarer Sehnsucht auf das Meer, einer schönen Gefangenen nicht unähnlich, die oben in ihrem Turm auf den Märchenprinzen wartet. Aber Oran glaubte nicht wirklich an die Verlockungen der Ferne oder an den Märchenprinzen. Die Stadt blickte nur auf das Meer, um es auf Abstand zu halten. Sie trug das Glück bereits in sich, und alles wollte ihr gelingen.
    Wir standen völlig in ihrem Bann.
    »He, ihr Provinzgurken!«, rief André Sosa uns zu.
    Er saß vor einer Eisdiele, neben sich einen amerikanischen Soldaten. An seinen ausladenden Gesten erkannten wir, dass er bei uns Eindruck schinden wollte. Er wirkte schneidig, hatte das Haar nach hinten gekämmt und mit einem Batzen Brillantine an die Schläfen geklebt, seine Schuhe waren frisch gewichst, und sein Gesicht verschwand zur Hälfte hinter einer riesigen Sonnenbrille.
    »Kommt,setzt euch zu uns!«, lud er uns ein und stand schon auf, um ein paar Stühle zu holen. »Hier gibt es den leckersten Malzkakao und die phantastischsten Schnecken in pikanter Sauce.«
    Der Soldat rutschte zur Seite, um uns Platz zu machen, und hatte offenbar nichts dagegen, dass wir ihm auf die Pelle rückten.
    »Das ist mein Freund Joe«, erklärte André, begeistert, uns seinen Yankee vorstellen zu können, den er vermutlich überall als besonderes Exponat vorführte. »Unser Cousin aus Amerika. Er kommt aus einem Dorf, das man fast mit dem unseren verwechseln könnte. Salt Lake City, das heißt doch Salzsee. Wie bei uns: Salt River – Río Salado.«
    Er warf den Kopf in den Nacken und wieherte los, sich ungemein viel zugutehaltend auf seinen Geistesblitz.
    »Spricht er Französisch?«, fragte Jean-Christophe.
    »Kaum. Joe sagt, seine Urgroßmutter sei Französin gewesen, aus Obersavoyen, aber er hat nie unsere Sprache gelernt. Damit hat er erst angefangen, seit er in Nordafrika ist. Joe ist Korporal. Er war an allen Fronten im Einsatz.«
    Joe nickte wiederholt, um den enthusiastischen Bericht seines Freundes zu bestätigen, und genoss das Schauspiel unserer Augenbrauen, die sich vor Bewunderung hoben und senkten. Er schüttelte uns vieren die Hand, während André uns ihm als seine besten Freunde und die prächtigsten Burschen von Salt River vorstellte. Obwohl er schon dreißig war und die Schlachten nicht spurlos an ihm vorübergegangen waren, hatte Joe noch ein jugendliches Gesicht mit schmalen Lippen und fast zu zarten Wangenknochen für einen langen Kerl seines Zuschnitts. Sein lebhafter, aber nicht wirklich verständiger Blick verlieh ihm etwas Einfältiges, wenn er breit lächelte; und er lächelte jedes Mal, wenn man ihn ansah.
    »Joe

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