Die Schuld des Tages an die Nacht
Zweifel. Ich hätte ihn unter hunderttausend durch die Nacht huschenden Phantomen, unter hunderttausend armen, in ihr Verderben rennenden Teufeln wiedererkannt … Mein Vater! Er war wieder da … Inmitten der Menschenmenge überquerte er mit gebeugtem Rücken den Marktplatz des Village nègre und hatte trotz der Hitze seine dicke Filzjacke an. Er lief immer geradeaus, zog nur den einen Fuß etwas nach. Ich rannte hinter ihm her, kämpfte mich durch einen Dschungel aus Armen und Beinen, einen Schritt vor und zwei zurück, bahnte mir mit Gewalt meinen Weg, die Augen fest auf seine Gestalt gerichtet, den gebeugten Rücken in der dicken grünen Jacke, der sich unaufhaltsam entfernte. Ich wollte ihn nicht aus den Augen verlieren, fürchtete, seine Spur nicht wiederzufinden … Als ich endlich die Menschentrauben abschütteln konnte und am anderen Ende der Esplanade angelangt war, hatte mein Vater sich in Luft aufgelöst.
Ich habe in allen Garküchen, allen Cafés, jedem Hammam nach ihm gesucht … Umsonst.
Ich habe meine Mutter und Schwester nie wiedergesehen. Ich weiß bis heute nicht, was aus ihnen geworden ist, ob sie noch leben oder bereits Staub unter Staub sind. Aber meinen Vater habe ich mehr malsgesehen. Etwa alle zehn Jahre. Bald auf einem belebten Souk oder einer Baustelle, bald allein, an einer einsamen Straßenecke oder vor einer verlassenen Lagerhalle … Ich habe es nie geschafft, mich ihm zu nähern … Einmal bin ich ihm bis in eine Sackgasse gefolgt, in der Gewissheit, dass er mir nun nicht mehr entwischen könne, und wie groß war meine Verblüffung, als ich keinen Menschen am Bretterzaun fand … Weil er immer dieselbe grüne Filzjacke trug, die allen jahreszeitlichen Schwankungen und allem Verschleiß zu trotzen schien, begriff ich irgendwann, dass er nicht aus Fleisch und Blut war …
Und bis zum heutigen Tag, wo mein Leben sich dem Ende zuneigt, kommt es vor, dass ich ihn in der Ferne erblicke, wie er mit gebeugtem Rücken in seiner immergrünen Filzjacke langsam dem eigenen Verfall entgegenhinkt.
10 .
DAS MEER WAR SO VOLLKOMMEN glatt und ruhig, dass man den Fuß hätte aufsetzen können. Nicht die winzigste Welle verlief sich plätschernd am Strand, nicht die leiseste Brise kräuselte die Wasseroberfläche. Es war mitten in der Woche, und der Strand gehörte unserer Viererbande. Fabrice lag dösend neben mir auf dem Rücken, das Gesicht mit einem aufgeschlagenen Roman bedeckt. Jean-Christophe stolzierte am Wasser entlang und ließ seine Muskeln spielen, ein Narziss, der selbst im Wasserglas ertrunken wäre. André und sein Cousin José hatten ihr Zelt mitsamt Grill etwa hundert Meter von unserem Lagerplatz entfernt aufgebaut; sie warteten brav auf ein paar Freundinnen aus Lourmel. Einige Familien sonnten sich träge, über die ganze Bucht verstreut. Hätte Simon nicht permanent seine Possen gerissen, man hätte sich auf einer verlassenen Insel gewähnt.
Die Sonne goss ihr flüssiges Blei über uns aus. Am glasklaren Himmel gaukelten die Möwen trunken von Freiheit und von der Weite des Raums. Von Zeit zu Zeit stürzten sie herab in die Fluten, jagten einander im Tiefflug am Wasser entlang, schossen pfeilschnell wieder gen Himmel und tauchten ein ins Azur. In weiter Ferne lief ein Fischkutter in den Hafen ein, ein Schwarm Vögel im Gefolge. Der Fang war offenbar recht erfolgreich.
Es war ein ausgesprochen schöner Tag.
Eine Dame saß allein unter ihrem Sonnenschirm und betrachtete den Horizont. Sie trug einen breitkrempigen Hut mit rotemBand und eine Sonnenbrille. Ihr weißer Badeanzug schmiegte sich an ihren sonnenbraunen Körper wie eine zweite Haut …
Mehr wäre nicht gewesen, ohne diesen plötzlichen Windstoß.
Wenn mir einer erzählt hätte, dass ein einfacher Windstoß den Lauf eines ganzen Lebens beeinflussen kann, hätte ich vielleicht besser aufgepasst. Aber mit siebzehn fühlt man sich unbesiegbar, ganz gleich, was passiert …
Die Mittagsbrise hatte eingesetzt, und mit ihr driftete der Windstoß Richtung Strand. Er wirbelte ein paar Staubwolken auf und entriss im selben Luftzug der Dame ihren Sonnenschirm, die gerade noch ihren Hut festhalten konnte. Der Schirm kreiselte durch die Luft, rollte über den Sand, überschlug sich unzählige Male. Jean-Christophe versuchte, ihn einzufangen, ohne Erfolg. Wäre es ihm gelungen, hätte mein Leben eine andere Wendung genommen. Aber das Schicksal hatte anders entschieden – der Sonnenschirm landete vor meinen Füßen, und ich hob ihn
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