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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Fabrice, mir ein wenig Geld zu borgen, und machte mich ohne Begleitung nach Djenane Djato auf, das heißt auf die Kehrseite der Stadt, wo keine einzige Uniform paradierte und Gebete und Stoßseufzer unerhört verhallten. Ich wollte meine Mutter und meine Schwester wiedersehen, sie mit eigenen Händen berühren, in der Hoffnung, die schlimme Vorahnung loszuwerden, die mich bis zum Morgen in Atem gehalten hatte und noch immer an mir klebte …
    Doch meine Intuition hatte nicht getrogen. Seit meinem letzten Besuch in Djenane Djato war einiges passiert. Der Patio war leer. Als hätte eine Sturmbö sämtliche Bewohner hinweggefegt. Ein Stacheldrahtzaun versperrte den Eingang, aber kühne Hände hatten eine Bresche geschlagen, durch die ich hineinschlüpfen konnte. Der Innenhof war von verkohlten Überbleibseln, Hühnermist und Katzenkot übersät. Der Brunnendeckel lag zerdellt am Beckenrand. Überall klafften die Tür-und Fensterhöhlen. Das Feuer hatte den linken Flügel des Patios vollständig zerstört; die Zwischenwände waren eingefallen, nur ein paar geschwärzte Pfeiler hingen noch unter der Decke, die den Blick auf einen zum Verzweifeln blauen Himmel freigab. Unser einstiges Zimmer war ein Trümmerhaufen, aus dem hier und da ein paar alte Küchenutensilien und einige halbverbrannte Bündel ragten.
    »Keiner mehr da!«, blaffte eine Stimme in meinem Rücken.
    Es war Holzbein. In einer viel zu kurzen Gandura kam er angeschwankt, sich mit einer Hand an der Mauer abstützend. Sein zahnloser Mund riss ein hässliches Leck in sein eingefallenes Gesicht, das der weiße Bart vergebens abzudichten versuchte. Sein Arm zitterte, und er hatte Mühe, sich auf seinem blassen Bein zu halten, das von kupferfarbenen Flecken übersät war.
    »Was ist denn hier passiert?«, fragte ich ihn.
    »Schreckliche Dinge …«
    Erhumpelte auf mich zu, hob nebenbei einen Blechkanister auf, drehte ihn um, um zu sehen, ob er noch etwas Brauchbares enthielt, dann schleuderte er ihn in hohem Bogen weg.
    Sein Arm beschrieb einen Kreis:
    »Sieh nur, was für ein Jammer … eine traurige Geschichte!«
    Da ich schweigend auf eine Erklärung wartete, fuhr er fort:
    »Ich hatte Bliss ja gewarnt. Das hier ist ein anständiger Patio, habe ich ihm gesagt. Setz diesen braven Frauen keine Nutte ins Nest, das kann nicht gutgehen. Aber Bliss wollte ja nicht hören. Eines Nachts sind dann zwei stockbesoffene Kerle hier aufgetaucht und wollten vögeln. Da die Hure schon einen Freier hatte, sind sie bei Badra eingefallen. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Blutbad war. Die beiden haben in ihrem Suff gar nicht kapiert, wie ihnen geschah. Im Nu hatten die beiden Söhne der Witwe sie abgestochen, bis kein Tropfen Blut mehr aus ihren Adern kam. Dann kam die Hure an die Reihe. Sie hat sich stärker gewehrt als ihre Freier, nur dass sie natürlich ein Federgewicht war. Dann hat irgendwer die Petroleumlampe umgekippt, und im Nu brannten ihre Sachen und der Patio lichterloh. Ein Glück, dass das Feuer nicht auf die anderen Häuser übergegriffen hat. Die Polizei hat Badra und ihre beiden Söhne verhaftet und den Patio versiegelt. Das ist jetzt zwei Jahre her. Manche denken, dass es hier spukt.«
    »Und meine Mutter?«
    »Keine Ahnung. Nur eins ist sicher: Sie ist dem Feuer entkommen. Ich habe sie am nächsten Morgen mit deiner kleinen Schwester an der Straßenecke gesehen. Sie waren unverletzt.«
    »Und Bliss?«
    »Hat sich in Luft aufgelöst.«
    »Es gab doch noch andere Mieter. Die könnte ich fragen.«
    »Ich kann dir nicht sagen, wo die hingezogen sind. Tut mir wirklich leid, Kleiner.«
    Todtraurig bin ich zum Boulevard des Chasseurs zurückgekehrt. Meine Kameraden gingen mir auf den Geist mit ihrer Fragerei. Entnervt bin ich wieder auf die Straße gegangen und blinddurch die Gegend gelaufen. Wohl tausend Mal blieb ich mitten auf der Straße stehen und packte mich am Kopf, tausend Mal versuchte ich, mich zu fassen, indem ich mir wieder und wieder sagte, dass meine Mutter und meine Schwester jetzt bestimmt in Sicherheit und besser dran waren als zuvor. Batoul, die Seherin, irrte sich nicht. Sie hatte wirklich übersinnliche Kräfte. Hatte sie nicht auch Haddas Schicksal vorhergesagt …? Mein Vater würde wiederkommen – das stand in den Wasserwirbeln geschrieben, und meine Mutter bräuchte sich nicht länger vor Ungewissheit zu grämen.
    Das alles redete ich mir ein, als ich ihn plötzlich vor mir auftauchen sah …
    Meinen Vater!
    Er war es. Ohne

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