Die Schuld des Tages an die Nacht
für Madame Cazenave waren rein.
Am Ende der Woche kam sie in unsere Apotheke. Ich stand gerade hinter dem Ladentisch und half Germaine, die zahllosen Bestellungen abzuarbeiten, die seit dem Ausbruch einer Magen-Darm-Epidemie im Dorf bei ihr eingegangen waren. Als ich den Kopf hob und sie direkt vor mir sah, wäre ich fast umgekippt.
Ich dachte, sie würde die Sonnenbrille noch abnehmen, aber sie behielt sie auf ihrer hübschen Nase, und ich hatte keine Ahnung, ob sie mich im Schutz ihrer opaken Gläser inspizierte oder ignorierte.
Sie überreichte Germaine das Rezept so graziös, als reiche sie ihr die Hand zum Kuss.
»Die Zubereitung Ihrer Arznei braucht Zeit«, erklärte Germaine, nachdem sie das Gekritzel des Arztes entziffert hatte. »Momentan bin ich damit etwas überfordert«, fügte sie hinzu und zeigte auf die Päckchen, die sich auf dem Ladentisch türmten.
»Bis wann könnten Sie es denn schaffen?«
»Mit ein bisschen Glück am Nachmittag. Aber nicht vor fünfzehn Uhr.«
»Das macht nichts. Allerdings kann ich es dann nicht abholen kommen. Ich war längere Zeit abwesend, und mein Haus hat seit Ewigkeiten keinen Besen mehr gesehen. Wären Sie wohl so nett, mir die Arznei bringen zu lassen? Natürlich gegen Bezahlung.«
»Das ist doch keine Frage des Geldes, Madame …?«
»Cazenave.«
»Angenehm … Wohnen Sie weit von hier?«
»Hinter dem israelitischen Friedhof. Das Haus ist ein wenig abseits, an der Piste zum Marabout.«
»Ich sehe es vor mir … Kein Problem, Madame Cazenave. DasMedikament wird Ihnen heute Nachmittag zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr zugestellt.«
»Das passt hervorragend.«
Ein vages Kopfnicken in meine Richtung, und sie entschwand.
Es hielt mich nicht mehr am Platz, ständig linste ich durch die Nebentür nach Germaine, die emsig im Hinterzimmer, das ihr als Labor diente, zugange war. Die Zeiger der Wanduhr wollten einfach nicht weiterrücken; ich fürchtete, es würde noch Nacht, bevor die Stunde der Erlösung schlug. Und endlich war sie da, die Stunde der Erlösung, wie ein tiefer Atemzug, wenn man lange die Luft angehalten hat. Um Punkt fünfzehn Uhr kam Germaine mit einem in Papier gewickelten Flakon aus dem Labor. Ich ließ ihr keine Zeit, ihn mir zu geben, geschweige denn mir die Anwendung zu erklären; ich riss ihr das Fläschchen aus den Händen und sprang auf mein Rad.
Die Hände fest um den Lenker geklammert, das Hemd im Wind gebläht, trat ich nicht in die Pedale, ich flog. Ich radelte um den israelitischen Friedhof herum, nahm die Abkürzung quer durch eine Obstplantage und war im Nu auf der Piste zum Marabout, wo ich die Schlaglöcher in Schlangenlinien umfuhr.
Das Haus der Cazenaves thronte dreihundert Meter vom Dorf entfernt auf einer Anhöhe. Es war ein stattliches Anwesen, in Weiß gehalten, nach Süden ausgerichtet, welches die ganze Ebene beherrschte. Der Stall zur Linken stand leer und war leicht verfallen, aber das Haus hatte nichts von seiner Pracht eingebüßt. Ein steiler Pfad führte, von Zwergpalmen gesäumt, von der Piste zum Anwesen empor. Der schmiedeeiserne Gartenzaun fußte auf einem sorgfältig behauenen Natursteinmäuerchen, um das ein knorriger Weinstock seine Ranken schlang. Im Giebelfeld des von zwei Steinquadersäulen getragenen Portikus war ein großes »C« in den Stein graviert, gleich darunter die Jahreszahl, 1912 , das Jahr, in dem die Bauarbeiten abgeschlossen worden waren.
Ichstieg ab, ließ mein Fahrrad am Eingang des Anwesens zurück und stieß das Tor auf, welches furchtbar quietschte. Im kleinen Innenhof, in dem ein Springbrunnen plätscherte, war kein Mensch zu sehen. Die Gärten ringsum waren verwildert.
»Madame Cazenave!«, rief ich.
Die Fensterläden waren geschlossen; die hölzerne Haustür desgleichen. Ich wartete neben dem Springbrunnen im Schatten einer Diana aus Stuck, die Arznei in der Hand. Keine Menschenseele, nur das leise Klagen des Windes in der Weinlaube war zu vernehmen.
Da das Warten kein Ende nehmen wollte, beschloss ich, an die Tür zu klopfen. Meine Faustschläge hallten im Inneren des Gebäudes wider wie durch unterirdische Wassergräben. Offenkundig war niemand im Haus, aber ich wollte es nicht wahr haben.
Ich setzte mich wieder auf den Brunnenrand. Spitzte die Ohren, um zu hören, ob nicht irgendwo der Kies knirschte. Erwartete voller Ungeduld, sie aus dem Nichts auftauchen zu sehen. Und als ich gerade die Hoffnung aufgeben wollte, erschallte in meinem Rücken ein »Guten Tag!«.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher