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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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stand direkt hinter mir, in einem weißen Kleid, das wie angegossen saß, ihren rotbebänderten Hut anmutig in den Nacken geschoben.
    »Ich war unten in der Plantage. Ich laufe gerne in der Stille der Bäume umher … Sind Sie schon lange da?«
    »Aber nein«, flunkerte ich, »ich bin eben erst gekommen.«
    »Ich habe Sie auf dem Rückweg gar nicht ge sehen.«
    »Hier ist Ihre Arznei, Madame«, entgegnete ich und hielt ihr das Päckchen hin.
    Sie zögerte ein wenig, bevor sie es nahm, als hätte sie ihren Besuch in unserer Apotheke vergessen, dann zog sie den Flakon aus seiner Verpackung, entstöpselte ihn und schnupperte am Inhalt, der eher nach Kosmetik aussah.
    »Der Balsam riecht gut. Hoffentlich lindert er auch meinen Muskelkater. Ich habe das Haus in einer solchen Unordnung vorgefunden,dass ich ganze Tage damit zubringe, es halbwegs wieder herzurichten.«
    »Falls es etwas zu transportieren oder zu reparieren gibt – Sie können gerne über mich verfügen.«
    »Sie sind zu liebenswürdig, Monsieur Jonas.«
    Sie bot mir einen Korbstuhl neben einem Tischchen auf der Veranda an, wartete, bis ich mich gesetzt hatte, und nahm dann mir gegenüber Platz.
    »Sie haben sicher ziemlichen Durst, bei dieser Hitze«, bemerkte sie und bot mir eine Karaffe Zitronade an.
    Sie goss mir ein großes Glas ein und schob es mir entgegen. Während sie den Arm bewegte, verzog sie vor Schmerz das Gesicht und biss sich graziös auf die Lippe.
    »Tut Ihnen etwas weh, Madame?«
    »Ich glaube, ich habe mich wohl verhoben.«
    Sie nahm die Brille vom Gesicht.
    Ich fühlte, wie ich dahinschmolz.
    »Wie alt sind Sie, Monsieur Jonas?« Sie sah mir tief in die Augen, und ihr erhabener Blick drang in mein Innerstes vor.
    »Siebzehn Jahre, Madame.«
    »Sie haben sicher schon eine Verlobte.«
    »Nein, Madame.«
    »Wie kann das sein? Mit so einem hübschen Gesicht und solch klaren Augen. Da muss sich doch ein ganzer Harem nach Ihnen verzehren.«
    Ihr Parfum stieg mir zu Kopf.
    Wieder biss sie sich auf die Lippe und fasste sich an den Hals.
    »Leiden Sie sehr, Madame?«
    »Es ist unangenehm.«
    Sie nahm meine Hand.
    »Sie haben Finger wie ein Prinz.«
    Es war mir peinlich, dass sie meine Verwirrung womöglich bemerkte.
    »Was wollen Sie später einmal werden, Monsieur Jonas?«
    »Apotheker, Madame.«
    Sieüberlegte eine Weile, dann sagte sie zustimmend:
    »Ein nobler Beruf.«
    Zum dritten Mal spürte sie Schmerzen und krümmte sich fast.
    »Ich muss diese Pomade auf der Stelle ausprobieren.«
    Sie erhob sich. Ihre Haltung war beeindruckend.
    »Wenn Sie wollen, Madame, könnte ich … könnte ich Ihnen die Schultern massieren …«
    »Damit rechne ich doch fest, Monsieur Jonas.«
    Ich weiß nicht, warum, aber schlagartig büßte der Ort etwas von seiner feierlichen Würde ein. Doch es dauerte nur einen Sekundenbruchteil. Ein Blick von ihr, und alles war wieder im Lot.
    Wir blieben zu beiden Seiten des Tisches stehen. Mein Herz pochte so heftig, dass ich mich fragte, ob sie es hörte. Sie nahm ihren Hut ab, die Haare fielen ihr über die Schultern, ich war wie betäubt.
    »Kommen Sie mal mit, junger Mann.«
    Sie stieß die Haustür auf und bat mich, ihr zu folgen. Das Vestibül war in malerisches Halbdunkel getaucht. Mir war, als hätte ich das alles schon einmal gesehen, als wäre mir der Korridor, der sich vor mir auftat, nicht fremd. Hatte ich das alles zuvor geträumt, oder war ich dabei, den Faden der Geschichte zu verlieren? Madame Cazenave ging vor mir her. Kurz blitzte in mir die Vorstellung auf, sie sei mein Schicksal.
    Wir stiegen eine Treppe empor. Ich stieß mit den Füßen gegen die Stufen. Ich klammerte mich ans Geländer, sah nur noch die wogenden Kurven ihres Körpers vor mir, majestätisch, verzaubernd, fast schon unwirklich, so sehr überstieg ihre Grazie jedes Vorstellungsvermögen. Auf dem Treppenabsatz stand sie jäh im grellen Licht, das durch eine Luke einfiel, und es war, als hätte ihr Kleid sich aufgelöst, um mir jedes Detail ihrer vollendeten Formen zu enthüllen.
    Plötzlich drehte sie sich um und ertappte mich im akuten Schockzustand. Sie erkannte sofort, dass ich außerstande war, ihr weiter zu folgen, dass mir die Beine gleich unter der Wucht meinerSchwindelattacken wegknicken würden und ich wie der Stieglitz in der Falle saß. Ihr Lächeln gab mir den Rest. Geschmeidig, schwebend kam sie auf mich zu, sagte etwas, das ich nicht verstand. Laut pochte das Blut in meinen Schläfen, raubte mir die Besinnung. Was ist denn

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