Die Schuld des Tages an die Nacht
Ohne Jean-Christophe wäre dieser Schabernack schnell in eine handfeste Schlägerei ausgeartet.
Fabrice, dem meine Reizbarkeit zu schaffen machte, besuchte mich einmal sogar zu Hause, um nachzufragen, was denn los sei. Er bekam keine Antwort.
Mürbevom Warten, hielt ich es irgendwann nicht mehr aus, schwang mich eines Sonntags um Punkt zwölf auf meinen Drahtesel und radelte zu dem großen weißen Haus. Madame Cazenave hatte einen alten Gärtner und eine Haushälterin engagiert, die im Schatten eines Johannisbrotbaums Mahlzeit hielten. Ich stand im Hof, an mein Rad gelehnt, und wartete, zitternd von Kopf bis Fuß. Madame Cazenave zuckte unmerklich zusammen, als sie mich neben dem Springbrunnen stehen sah. Ihr Blick wanderte zu den beiden Dienstboten am anderen Ende des Gartens und kehrte dann zu mir zurück. Sie musterte mich wortlos. Ich fühlte, dass sie hinter ihrem Lächeln verärgert war.
»Ich konnte nicht mehr«, gestand ich ihr.
Sie kam die Vortreppe herunter und bewegte sich gelassenen Schrittes auf mich zu.
»Doch, das müssen Sie«, entgegnete sie in festem Ton.
Sie bat mich, ihr zum Eingangstor zu folgen. Und dort, als wären wir allein auf der Welt, umfasste sie ohne Scheu vor indiskreten Blicken meinen Nacken und küsste mich heftig auf den Mund. Es war ein Kuss von leidenschaftlicher Gier, der den Stempel des unwiderruflichen Abschieds trug. Ich fühlte es.
»Sie haben das alles nur geträumt, Jonas«, sagte sie. »Es war nur der Wunschtraum eines Heranwachsenden.«
Ihre Finger lösten sich von meinem Hals, und sie wich zurück.
»Da war nie etwas zwischen uns … Noch nicht einmal dieser Kuss.«
Ihr Blick wurde bohrender:
»Verstehen Sie mich?«
»Ja, Madame«, hörte ich mich stottern.
»Gut.«
Sie tätschelte mir in einer Anwandlung von Mütterlichkeit die Wange:
»Ich wusste ja, dass Sie ein vernünftiger Junge sind.«
Erst im Schutz der Dunkelheit fand ich nach Hause zurück.
11 .
ICH WAGTE AUF EIN WUNDER zu hoffen. Vergebens.
Der Herbst riss den Bäumen schon das Laub vom Leib. Höchste Zeit, die Augen nicht länger vor der Wirklichkeit zu verschließen. Das Ganze war eine bloße Wunschvorstellung. Zwischen Madame Cazenave und mir war nie etwas gewesen.
Ich traf mich aufs Neue mit meinen Kameraden, lachte über Simons Narrenpossen, lauschte Fabrice’ glühend romantischer Lyrik. Jean-Christophe hatte sich erstaunlich gut mit Isabelle Rucillio arrangiert. Er erklärte uns, wie wichtig es sei, Kompromisse zu schließen, bei denen jeder auf seine Kosten komme, das Leben sei eine längerfristige Investition, und am Ende würde der Erfolg demjenigen lachen, der genug Geduld aufbringe. Er schien zu wissen, was er wollte, zwar blieb er für seine Theorien die Beweise schuldig, doch war er allzeit unserer langmütigen Nachsicht gewiss.
Dann zog das Jahr 1945 mit den Fluten widersprüchlicher Nachrichten und haltloser Spekulationen herauf. In Río Salado liebten es die Leute, bei einem Glas Anisette vor sich hin zu fabulieren. Das kleinste Gefecht wurde aufgeblasen und mit den abenteuerlichsten Heldentaten garniert, deren Protagonisten meist gar nicht dabei gewesen waren. Auf den Caféterrassen schwirrten Analysen und Diagnosen umher. Die Namen Stalin, Churchill und Roosevelt tönten wie Fanfaren zum letzten Gefecht. Manch Witzbold klagte über de Gaulles schlanken Wuchs und versprach, ihm den besten Couscous des Landes zu schicken,damit er endlich das Bäuchlein bekäme, ohne das es seinem Charisma an Strahlkraft fehlte, zumindest in den Augen der Algerier, für die Autorität und Schmerbauch nicht voneinander zu trennen sind. Die Leute lachten wieder und schauten dabei so tief ins Glas, dass sie am Ende jeden Esel für ein Einhorn hielten. Das Stimmungsbarometer stand auf Optimismus. Die jüdischen Familien, die infolge der massiven Deportationen ihrer in Frankreich lebenden Glaubensgenossen ins Ausland geflohen waren, kehrten allmählich in die Heimat zurück. Das normale Leben kam langsam, aber sicher wieder in Gang. Die Weinlese war sensationell in diesem Jahr und der Saisonabschlussball phänomenal. Pépé Rucillio verheiratete seinen Jüngsten, und die ganze Region vibrierte sieben Tage und sieben Nächte lang zum Gitarren- und Kastagnettenklang einer berühmten Truppe aus Sevilla. Wir kamen sogar in den Genuss einer grandiosen Phantasia, bei der sich die fähigsten Reiter der Region ohne Komplexe mit den legendären Kriegern der Ouled N’har maßen.
In Europa driftete das
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