Die Schuld des Tages an die Nacht
Hitlerreich derweil dem Untergang entgegen. Täglich kamen Nachrichten von neuen Debakeln an der Front, täglich wurde bombardiert und torpediert. Ganze Städte versanken in Feuersbrunst und Aschenregen. Und während am Himmel die Luftschlachten tobten, brachen die Schützengräben unter den Stahlraupen der Panzer zusammen … In Río Salado war das Kino immer gut besucht. Viele kamen überhaupt nur, um die französische Wochenschau zu sehen, die Pathé Actualités , die vor jedem Spielfilm gezeigt wurde. Die Alliierten hatten bereits einen Gutteil der besetzten Gebiete befreit und rückten unaufhaltsam gegen Deutschland vor. Italien war nur noch ein Schatten seiner selbst. Partisanen und Widerstandskämpfer verwirrten den Feind, der ohnehin zwischen der Dampfwalze der Roten Armee und dem Ansturm der Amerikaner gefangen war.
Mein Onkel hockte von früh bis spät vor seinem Rundfunkgerät. Völlig ausgemergelt saß er im Unterhemd auf seinem Stuhlund fingerte, übers Radio gebeugt, auf der Suche nach einem weniger rauschenden Sender nervös am Drehknopf herum. Das Knistern und Fiepen der Radiowellen erfüllte unser Haus mit galaktischem Geräusch. Germaine hatte längst kapituliert. Ihr Mann setzte immer seinen Kopf durch. Er verlangte, dass man ihm das Essen im Wohnzimmer in der Nähe des Radios servierte, damit ihm nur ja keine Meldung entging.
Und dann kam der 8 . Mai 1945 . Während der ganze Planet das Ende des Alptraums feierte, brach in Algerien ein neuer Alptraum los, der seuchenartig um sich griff, grauenvoll wie die Apokalypse. Das Glück der jubelnden Menschenmengen ging in einer Tragödie unter. Ganz in der Nähe von Río Salado, in Aïn Témouchent, wurden Kundgebungen für ein unabhängiges Algerien von der Polizei brutal unterdrückt. In Mostaganem erfasste der Aufruhr die angrenzenden Weiler. Aber das Grauen erreichte seinen Höhepunkt im Aurès-Gebirge und in der Gegend nördlich von Constantine, wo Tausende von Muslimen von den Ordnungsdiensten abgeschlachtet wurden; sie erhielten Verstärkung von Siedlern, die man auf die Schnelle als Milizionäre rekrutiert hatte.
»Das ist doch nicht möglich!«, stöhnte mein Onkel in seinem zerknitterten Krankenpyjama. »Wie konnten sie das wagen? Wie kann man ein Volk massakrieren, das noch um seine Söhne weint, die für die Befreiung Frankreichs gefallen sind? Warum schlachtet man uns ab wie Vieh, nur weil wir unseren Anteil an der Freiheit verlangen?«
Völlig außer sich, stolperte er bleich und dürr in seinen Pantoffeln durchs Wohnzimmer.
Sein arabischer Sender berichtete von der blutigen Niederschlagung der Demonstrationen in Guelma, Kherrata und Sétif, von den Massengräbern, in denen die Leichen Tausender Muslime verwesten, von der Hetzjagd quer durch Plantagen und Felder auf den Araber , vom Loslassen der Kettenhunde, von Lynchjustiz auf öffentlichen Plätzen. Die Nachrichten waren derart grauenhaft, dass weder mein Onkel noch ich die Krafthatten, uns dem Friedensmarsch auf der Hauptstraße von Río Salado anzuschließen.
Mein Onkel brach zuletzt unter dem Ausmaß der Katastrophe, die die muslimische Bevölkerung in Trauer versetzte, zusammen. Eines Abends griff er sich ans Herz und stürzte kopfüber zu Boden. Madame Scamaroni fuhr ihn mit uns ins Krankenhaus und vertraute ihn der Fürsorge eines Arztes, den sie gut kannte, an. Angesichts der wachsenden Panik Germaines blieb sie vorsorglich bei ihr im Wartezimmer. Fabrice und Jean-Christophe kamen spät in der Nacht, um uns Gesellschaft zu leisten, und Simon lieh sich eigens das Motorrad seines Nachbarn aus, um uns ebenfalls beizustehen.
»Ihr Gatte hatte einen Herzanfall, Madame«, erklärte der Arzt Germaine. »Er hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.«
»Wird er es überleben, Herr Doktor?«
»Wir haben alles Nötige getan. Wie es weitergeht, hängt von ihm ab.«
Germaine wusste nicht, was sie sagen sollte. Seit der Einlieferung ihres Mannes war kein Wort über ihre Lippen gekommen. Ihr Gesicht war blass, ihr Blick stumpf. Sie faltete die Hände unterm Kinn, senkte die Lider und vertiefte sich ins Gebet.
Mein Onkel wachte am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe aus seinem Koma auf, verlangte Wasser zu trinken und wollte auf der Stelle nach Hause gebracht werden. Der Arzt behielt ihn noch einige Tage unter Beobachtung, bis er bereit war, ihn zu entlassen. Madame Scamaroni wollte uns eine Krankenpflegerin empfehlen, die sich ganztags um unseren Patienten kümmern könnte.
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