Die Schuld des Tages an die Nacht
konnte, mich als Kavalier zu akzeptieren. Und Simon schwebte auf einer Wolke. Die runden Babybacken in die Hände gestützt, schaute er immer nur auf den einen ungedeckten Tisch ganz hinten im Hof.
Als die Musik kurz pausierte, begleitete ich meine Dame an ihren Platz und ging an unseren Tisch zurück. Simon achtete gar nicht auf mich. Er hatte das Gesicht noch immer in die Hände gestützt und lächelte selig ins Leere. Ich wedelte mit der Hand vor seinen Augen umher, aber er reagierte nicht. Ich folgte seinem Blick und … sah sie .
Sie saß allein an einem Tisch, der etwas abseits stand – er war wohl erst später hinzugekommen, denn es fehlten Gedecke und Tischtuch – und in regelmäßigen Abständen hinter den Zuckungen der Tänzer verschwand … Ich verstand, warum Simon, der normalerweise jeden Ball in einen zwerchfellerschütternden Zirkus verwandelte, plötzlich so in sich gekehrt war: Das Mädchen war von atemberaubender Schönheit!
In ihrem engen, opal schimmernden Kleid saß sie da, das Haar zu einem glänzenden schwarzen Knoten gerafft, und betrachtete die Tanzenden, ohne sie wahrzunehmen, während ein hauchzartes Lächeln auf ihren Lippen lag. Sie schien in Gedanken vertieft, das Kinn graziös auf die Fingerspitzen gestützt; ihre weißen Handschuhe reichten bis zum Ellenbogen. Von Zeit zu Zeit schoben sich frenetisch zuckende Schatten vor sie, dann war sie wieder in voller Pracht zu sehen, eine dem Teich entstiegene Nymphe.
»Ist sie nicht himmlisch?«, seufzte Simon überwältigt.
»Sie ist hinreißend.«
»Sieh dir nur diese geheimnisvollen Augen an. Ich möchte wetten, die sind so schwarz wie ihr Haar. Und ihre Nase! Sieh dir doch nur diese Nase an. Wie ein Stück Ewigkeit.«
»Sachte, mein Junge, sachte!«
»Undihr Mund, Jonas. Hast du diese Rosenknospe gesehen? Wie kann sie damit essen?«
»Vorsicht, Simon, du hebst gleich ab. Komm wieder auf den Erdboden zurück, mein Freund.«
»Was soll ich da?«
»In den Wolken gibt es Luftlöcher.«
»Ist mir egal. Ein solches Wunder hat es verdient, dass man dafür auf die Schnauze fällt.«
»Und womit gedenkst du sie zu verführen?«
Endlich wandte er mir seinen Blick wieder zu und erwiderte mit einem Anflug von Traurigkeit:
»Du weißt genau, dass ich nicht die leiseste Chance habe.«
Sein bedrückter Ton schnitt mir ins Herz.
Doch schon fasste er sich wieder:
»Glaubst du, dass sie aus Río ist?«
»Dann hätten wir sie längst bemerkt.«
Simon lächelte:
»Stimmt. Dann hätten wir sie längst bemerkt.«
Seltsamerweise hielten wir beide zugleich den Atem an und strafften den Rücken, als ein junger Mann sich dem isolierten Mädchen näherte und sie zum Tanzen aufforderte. Wie groß war unsere Erleichterung, als sie die Einladung freundlich ausschlug.
Fabrice kam schwitzend von der Piste zurück, setzte sich zu uns an den Tisch, fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn, beugte sich zu uns und flüsterte:
»Habt ihr die einsame Schönheit da drüben gesehen, ganz hinten rechts im Hof?«
»Was glaubst du denn!«, antwortete Simon. »Offenbar hat alle Welt nur noch Augen für sie.«
»Ich habe mir ihretwegen eine Abfuhr geholt«, beichtete uns Fabrice. »Meine Tanzpartnerin hätte mir fast die Augen ausgekratzt, als sie merkte, dass ich nicht bei der Sache war … Habt ihr eine Ahnung, wer das sein könnte?«
»Sicher eine aus der Stadt, die hier ihre Verwandten be sucht«,antwortete ich. »Ihre Kleidung und ihr Benehmen wirken eher großstädtisch. Ich habe noch nie eines unserer Mädchen in einer solchen Haltung am Tisch sitzen sehen.«
Unvermittelt blickte die Unbekannte zu uns herüber, und wir erstarrten alle drei, als hätte sie uns mit der Hand in ihrer Manteltasche ertappt. Ihr Lächeln erblühte, und das Medaillon in ihrem Ausschnitt blitzte auf wie der Lichtschein eines Leuchtturms in ferner Nacht.
»Sie ist umwerfend«, befand Jean-Christophe, der aus dem Nichts aufgetaucht war.
Er drehte einen der unbesetzten Stühle um und nahm rittlings Platz.
»Na, da bist du ja endlich«, begrüßte ihn Fabrice. »Wo warst du denn so lange?«
»Rate mal!«
»Du hast dich schon wieder mit Isabelle in der Wolle gehabt?«
»Sagen wir, diesmal habe ich sie in die Wüste geschickt. Stellt euch bloß vor, sie konnte sich nicht entscheiden, welchen Schmuck sie anlegen wollte. Ich habe im Salon gewartet, in der Diele, im Hof, und Mademoiselle wusste noch immer nicht, welches Stück Schrott sie sich um den Hals hängen
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