Die Schuld des Tages an die Nacht
schnurgerade Straße nach Lourmel. Am Dorfeingang quoll gerade eine Ladung Passagiere aus dem Bus: Bewohner von Río, die aus Oran zurückkehrten, und arabische Arbeiter, die von den Baustellen der Stadt zurückkamen. Letztere liefen mit ihrem Bündel unterm Arm querfeldein in Richtung der Piste, die zu ihren Weilern führte.
Djelloulfolgte meinem Blick. Als der letzte Arbeiter am Ende der Piste verschwunden war, wandte er sich zu mir um und sah mich so eindringlich an, dass es mich störte.
Als die Sonne eben hinter den Hügeln versank, hielt der Rucillio-Clan Einzug. Mit von der Partie: die beiden jüngsten Söhne von Pépé, zwei ihrer Cousins und ihr Schwager Antonio, der Sänger in einem Kabarett in Sidi Bel-Abbès war. Sie kamen in einem fabrikneuen kolossalen Citroën angerauscht, den sie demonstrativ am Hofeingang parkten.
André begrüßte sie mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter und dem feisten Lachen der Reichen, dann wies er ihnen die besten Plätze zu.
»Manche haben die Taschen voll Geld und stinken doch meilenweit nach Pferdemist«, murrte Simon, dem es gar nicht gefiel, dass die Rucillios grußlos an uns vorüberliefen.
»Du weißt doch, wie sie sind«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.
»Aber trotzdem hätten sie wenigstens guten Tag sagen können. Was kostet es sie denn, freundlich zu sein? Wir sind doch nicht irgendwer. Du bist Apotheker, Fabrice Dichter und Journalist, und ich bin Verwaltungsangestellter.«
Es war noch nicht ganz dunkel, da hatte der Hof sich schon mit strahlenden jungen Mädchen und flotten jungen Männern gefüllt. Andere, nicht ganz so junge Paare kamen in funkelnden Limousinen an, die Damen in königlichen Roben, die Herren im Anzug, die Fliege wie ein Messer quer über die Kehle gebunden. André hatte die Crème de la Crème von Río geladen und die angesehensten Mitglieder der umgebenden Bourgeoisie. Im bunten Gewimmel konnte man den Sohn des größten Geldsacks von Hammam Bouhdjar erkennen, dessen Vater ein eigenes Flugzeug besaß. An seinem Arm hing ein aufsteigendes Sternchen des jüdisch-oranesischen Chansons, umringt von einer Meute von Bewunderern, die es mit Komplimenten überhäuften und ihm im Gerangel sich reckender Arme Zigaretten und Feuerzeug hinstreckten.
Dannwurden die Lampions entzündet. José klatschte in die Hände und bat um Ruhe; der Lärm ließ allmählich nach. André betrat das Podium und dankte seinen Gästen, dass sie gekommen waren, um mit ihm zusammen die Einweihung seiner Snackbar zu feiern. Er ließ zum Auftakt eine saftige Anek dote vom Stapel, die beim reservierten Publikum wenig Anklang fand, bedauerte, dass sein launiger Vortragsstil von den Anwesenden nicht gebührend gewürdigt wurde, kürzte seinen Auftritt ab und machte die Bühne für eine Gruppe Musiker frei.
Der Abend begann mit einem Konzert bis dato unbekannter Musik, in der Bässe und Trompeten den Ton angaben, und die beim Publikum auf komplettes Desinteresse stieß.
»Das ist doch Jazz, verflixt noch mal!«, schimpfte André. »Wie kann man sich heutzutage denn nicht für Jazz interessieren, ohne als Höhlenbewohner durchzugehen?«
Die Jazzmusiker beugten sich schließlich den Tatsachen: Río Salado war zwar nur rund sechzig Kilometer von Oran entfernt, doch zwischen den Mentalitäten lagen Welten. Als professionelle Musiker spielten sie noch eine Weile ins Leere, dann folgte, quasi als Ehrenrunde, ein letztes Stück, das inmitten der allgemeinen Achtlosigkeit wie eine Art Bannfluch klang.
Sie verschwanden von der Bühne, ohne dass es irgendwem aufgefallen wäre.
André hatte zwar durchaus mit einem Desaster gerechnet, aber doch gehofft, dass seine Gäste der umschwärmtesten Jazzgruppe des Landes mit einem Minimum an Höflichkeit begegnen würden. Man sah, wie er sich vor Entschuldigungen schier überschlug, während der erboste Trompeter zu schwören schien, nie wieder einen Fuß in ein solches Kuhdorf zu setzen.
Während hinter den Kulissen die Stimmung auf den Tiefpunkt sank, bat José ein zweites Orchester auf die Bühne, und zwar ein hiesiges. Es war magisch, schon bei den ersten Takten ging ein Aufschrei der Erleichterung durchs Publikum, und im Nu war die Tanzfläche Schauplatz frenetischer Hüftschwünge.
Fabrice Scamaroni bat die Nichte des Bürgermeisters um einenTanz und führte sie frohgemut auf die Piste. Ich für mein Teil holte mir bei einem vor Schüchternheit reglosen Mädchen einen Korb, bevor ich ihre Freundin davon überzeugen
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