Die Schuld des Tages an die Nacht
gesehen, wie ich dich jetzt sehe, in der Nähe der Cave Cordona. Es sah nicht nach einer zufälligen Begegnung aus. Fabrice lehnte am Wagen seiner Mutter, die Arme über der Brust verschränkt, er wirkte sehr entspannt … und das Mädchen machte nicht den Eindruck, als wäre es sonderlich in Eile, nach Hause zu kommen.«
»Fabrice ist doch in Río der Hahn im Korb. Jeder hält ihn auf der Straße an. Mädchen wie Jungen. Und auch die älteren Leute. Das ist ganz normal, er ist schließlich unser Dichter.«
»Ja schon, nur schien mir zwischen den beiden mehr zu laufen als nur das, als ich sie da stehen sah. Ich bin sicher, das war kein harmloses Geplauder.«
»Hey, ihr Landeier!«, rief André zu uns herüber, während er sein Auto parkte. »Warum seid ihr nicht in meiner Snackbar und übt euch in die Kunst des Billards ein?«
»Wir warten auf Fabrice!«
»Soll ich schon mal vorfahren?«
»Wir kommen gleich nach.«
»Ganz sicher?«
»Ganz sicher.«
André tippte sich mit zwei Fingern an die Schläfe und gab Vollgas, dass die Reifen quietschten und sich dem alten Hund, der eingerollt vor einem Laden döste, das Nackenfell sträubte.
Simon zupfte mich am Arm.
»Ich habe den Zwist zwischen dir und Jean-Christophe wegen Isabelle nicht vergessen. Ich will auf keinen Fall, dass mir mitFabrice dasselbe passiert. Unsere Freundschaft ist für mich ganz elementar …«
»Nun überstürz mal nichts.«
»Allein beim Gedanken daran schäme ich mich für die Gefühle, die ich für dieses Mädchen hege.«
»Für wahre Gefühle sollte man sich nie schämen, selbst dann nicht, wenn sie einem nicht ganz angebracht vorkommen.«
»Meinst du das im Ernst?«
»In der Liebe ist eine Chance so gut wie die andere. Man hat nicht das Recht, seine Chance nicht zu nutzen.«
»Denkst du, ich hätte eine Chance gegenüber Fabrice? Er ist reich und berühmt.«
»Glaubst du, denkst du, meinst du … Was anderes führst du nicht mehr im Mund … Willst du wissen, was ich glaube: dass du ein Feigling bist. Du schleichst um den heißen Brei herum und denkst, das bringt dich voran … Lass uns das Thema wechseln. Fabrice ist im Anmarsch.«
Bei André herrschte Hochbetrieb und ein solcher Lärm, dass wir unsere Schnecken in pikanter Sauce gar nicht richtig genießen konnten. Außerdem war Simon völlig neben der Kappe. Mehrmals spürte ich, dass er kurz davorstand, Fabrice sein Herz auszuschütten, aber kaum hatte er die Lippen geöffnet, überlegte er es sich anders. Fabrice merkte nichts davon. Er hatte sein Notizbuch herausgeholt und kritzelte mit zusammengekniffenen Augen ein Gedicht, an dem er ständig herumstrich. Eine blonde Strähne hing ihm über die Nase, gleich einer Barriere zwischen seinen Geistesblitzen und Simons Gedanken.
André kam, um zu sehen, ob es uns auch an nichts fehlte. Er neigte sich über die Schulter des Poeten, um zu lesen, was der gerade schrieb:
»Ich bitte dich!«, wies Fabrice ihn irritiert ab.
»Ein Liebesgedicht …! Darf man wissen, wer dir das Herz so auf den Kopf gestellt hat?«
Fabriceklappte sein Notizbuch rasch zu, legte beide Hände darüber und blickte André finster an, der nur brummte:
»Störe ich etwa deine lyrischen Höhenflüge?«
»Du fällst ihm auf den Wecker!«, schnaubte Simon. »Verpiss dich.«
André schob seinen Cowboyhut zurück und stemmte die Hände in die Hüften:
»Na hör mal, bist du heute früh mit dem falschen Fuß aufgestanden? Was soll das denn, mir so dumm zu kommen?«
»Du siehst doch, dass er gerade eine Eingebung hat.«
»Papperlapapp …! Mit schönen Sätzen hat noch keiner das Herz eines Mädchens erobert. Sieh mich an: Ich brauch nur in die Hände zu klatschen, und schon kommen sie alle angerannt.«
Andrés Geschmacklosigkeit widerte Fabrice an, der sein Notizbuch nahm und wütend die Snackbar verließ.
André sah ihm verblüfft hinterher, dann rief er uns zu Zeugen an:
»Ich habe doch gar nichts gesagt … Ist er neuerdings allergisch gegen meine Scherze oder was?«
Fabrice’ übereilter Abmarsch überraschte uns. So barsch reagierte er sonst nie. Von uns vieren war er der Höflichste und nicht so schnell zu beleidigen.
»Wer weiß, das sind vielleicht die Nebenwirkungen der Liebe«, bemerkte Simon bitter.
Er hatte soeben begriffen, dass zwischen seinem Freund und seinem »Traum mit den geheimnisvollen Augen« tatsächlich mehr war als harmloses Geplauder.
Am Abend lud Jean-Christophe uns zu sich nach Hause ein. Er hatte uns wichtige Dinge
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