Die Schuld des Tages an die Nacht
hinreißend in ihren leichten Sommerkleidern, die ihre Sirenenarme und einen Teil ihres gebräunten Rückens entblößten, unterhielten sich auf der Straße eine Spur lauter als sonst. Die jungen Männer in den Terrassencafés wurden immer zerfahrener und entflammten wie Zündhölzer, wenn man die Nase in ihre kleinen Geheimnisse steckte, die aus Seufzern und schwülen Träumereien bestanden.
Aber was das Herz der einen höher schlagen lässt, geht den anderen an die Nieren: Jean-Christophe machte ernstlich Schluss mit Isabelle. Unter den Torbögen gab es nur noch ein Gesprächsthema: ihre turbulente Idylle. Mein armer Freund verkam zusehends. Normalerweise pflegte er auf der Straße die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu ziehen. Wenn er am anderen Straßenende einen Bekannten sah, rief er nach ihm und benutzte dabei die Hände als Trichter, oder er hielt aus Lust und Laune einen Automobilisten mitten auf der Chaussee an oder brüllte dem Barmann schon am Eingang seine Bestellung zu, zumeist ein kleines Bier; voller Narzissmus und so gut wie allgegenwärtig hielt er sich stolz für den alleinigen Nabel der Welt.Und plötzlich ertrug er den Blick der Leute nicht mehr, tat so, als hätte er nicht gehört, wenn ihn einer aus einem Laden oder vom Gehweg gegenüber rief. Das unschuldigste Lächeln wurde ihm zur Qual, und er drehte jede Bemerkung zigmal hin und her, um zu prüfen, ob nicht eine heimtückische Anspielung darin verborgen sei. Er war cholerisch, abweisend und vor Kummer halb verrückt. Ich machte mir große Sorgen um ihn. Eines Abends, nachdem er einsam hinter dem Hügel umhergeirrt war, fern allen Geredes, kreuzte er in Andrés Snackbar auf, um sich höllisch zu besaufen. Nachdem er etliche Flaschen gezischt hatte, konnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten. Als José sich anbot, ihn nach Hause zu begleiten, hieb Jean-Christophe ihm die Faust ins Gesicht; dann ergriff er eine Eisenstange und fing an, die Gäste fortzujagen. Als er allein an Bord war, zwischen leeren Tischen und Bänken, kletterte er schwankend und mit tropfender Nase auf die Theke, stellte sich breitbeinig hin und begann, den Boden mit Sturzbächen von Urin zu wässern. Dabei brüllte er, so und nicht anders würde er all die Mistkerle ersäufen, die hinter seinem Rücken dummes Zeug über ihn erzählten … Es war gar nicht so einfach, ihn von hinten zu fassen zu bekommen, ihm die Stange wegzunehmen, ihn festzubinden und auf einer improvisierten Trage nach Hause zu bringen. Der Zwischenfall löste in Río ungeheure Empörung aus; das hatte es noch nie gegeben. Eine Schande war das – hchouma ! In den Dörfern Algeriens gab es dafür kein Pardon. Man durfte wanken, straucheln, fallen, musste dann aber wieder auf die Füße kommen. Doch wenn der Absturz so abgrundtief war und auf diese Art geschah, dann hatte man die Achtung der anderen für immer verloren und die anderen meistens gleich mit. Jean-Christophe verstand, dass er zu weit gegangen war. Er konnte sich unmöglich noch im Dorf blicken lassen. Er verzog sich nach Oran und vergeudete seine Zeit in den Kneipen.
Simon dagegen nahm sein Schicksal ganz pragmatisch in die Hand. Sein Status als kleiner Angestellter, der in einem dunklen, vom Muff schwebender Verfahren stickigen Büro vor sich hinmoderte, war ihm schließlich auf den Geist gegangen. Sein fideles Naturell passte nicht recht zu dieser beruflichen Laufbahn. Er konnte sich nicht vorstellen, sein Leben lang in abgestandenem Zigarettenrauch und dem Geruch feuchten Papiers Archive zu ordnen. Das kerkergleiche Dasein des abgebrannten Buchhalters war nichts für ihn. Er hatte dafür weder die Persönlichkeit noch die erforderliche stoische Gelassenheit. Seine fast permanente Übellaunigkeit rührte nicht zuletzt von diesen grauen Wänden, die ihn schier erdrückten und seinen Aktionsradius auf die Fläche eines vergilbten Blattes Papier begrenzten, das er nur widerwillig anfasste. Simon erstickte fast in seinem Kabuff; er wollte nicht eines Tages seinem Tisch, seinem Stuhl, seinem Blechschrank ähneln, wollte nicht ständig warten, bis einer pfiff, um wie ein apathisches Raubtier seinen Käfig zu verlassen, wollte nicht erst unter Druck geraten, um sich darauf zu besinnen, dass er aus Fleisch und Blut war und Angst empfinden konnte, im Gegensatz zum stumpfen Mobiliar, das über seine Freudlosigkeit wachte. Eines schönen Morgens kündigte er nach einem heftigen Disput mit seinem Vorgesetzten. Er beabsichtigte, sich ins
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