Die Schuld des Tages an die Nacht
sollte.«
»Du hast sie zu Hause sitzen lassen?« Simon wollte es nicht glauben.
»Na und?«
Simon erhob sich, schlug die Fersen zusammen und salutierte:
»Kompliment! Du hast diese dumme Nudel geschasst, das verdient allen Respekt. Ich bin stolz auf dich!«
Jean-Christophe drückte Simon wieder auf seinen Stuhl zurück:
»Du nimmst mir die Sicht auf den Höhepunkt des Schauspiels, du Dickmops«, erklärte er unter Anspielung auf die schöne Unbekannte. »Wer ist das?«
»Geh doch und frag sie selber!«
»Mitdem Rucillio-Clan im Nacken? Ich bin doch nicht lebensmüde.«
Fabrice zerknüllte seine Serviette, holte tief Luft und stieß seinen Stuhl zurück:
»Na schön, dann geh ich mal zu ihr hin.«
Ihm war nicht einmal genug Zeit vergönnt, den Tisch zu verlassen. Soeben kam ein Wagen vorgefahren. Das Mädchen erhob sich und ging auf den Wagen zu. Wir sahen, wie sie neben dem Fahrer Platz nahm und zuckten alle vier zusammen, als sie die Tür zuschlug.
»Ich weiß, ich habe nicht die geringste Chance«, sagte Simon, »aber einen Versuch ist es verdammt noch mal wert. Morgen, wenn der Tag anbricht, werde ich meinen Silberpantoffel zu allen Mädchen im Dorfe tragen, vielleicht finde ich eine, die ihn sich anzieht.«
Wir brachen in lautes Gelächter aus.
Simon griff nach dem Löffel, der auf dem Tisch lag und rührte mechanisch in seiner Tasse. Zum dritten Mal rührte er jetzt seinen Kaffee um, ohne auch nur einen Schluck genommen zu haben. Wir saßen auf der Terrasse vom Café am Platz und genossen das schöne Wetter. Der Himmel war wie frisch geputzt, und die Märzensonne warf ihre glitzernden Lichter auf die Straße. Kein Windhauch ließ das Blattwerk der Bäume erbeben. In der morgendlichen Stille, der das leise Glucksen des Rathausbrunnens oder das holprige Geratter eines Karrens kaum Abbruch tat, lauschte das Dorf sich selbst.
Der Bürgermeister überwachte mit bis zu den Schultern hochgekrempelten Hemdsärmeln eine Gruppe von Angestellten, die die Bürgersteigränder rot und weiß kalkten. Vor der Kirche war der Pfarrer einem Kärrner behilflich, Kohlesäcke abzuladen, die ein kleiner Junge an der Außenmauer eines Patios übereinanderstapelte. Auf der anderen Seite der Esplanade hielten Hausfrauen am Stand eines Gemüsehändlers einen Schwatz, unter dem belustigten Blick Brunos, eines blutjungen Polizisten.
Simonlegte seinen Löffel wieder hin.
»Ich habe seit neulich abends bei Dédé kein Auge mehr zugetan«, gestand er.
»Wegen des Mädchens?«
»Dir entgeht aber auch gar nichts … Ich glaube, ich habe mich ernsthaft in sie verknallt.«
»Tatsächlich?«
»Wie soll ich sagen? Was ich für diese Brünette mit ihren geheimnisvollen Augen empfinde, das habe ich vorher noch nie gefühlt.«
»Hast du ihre Spur wiedergefunden?«
»Schön wär’s! Gleich am nächsten Tag habe ich mich auf die Suche gemacht. Das Problem ist, ich habe schnell gemerkt, dass ich nicht der Einzige bin, der ihr nachläuft. Selbst dieser Hornochse von José ist mit von der Partie. Kannst du dir das vorstellen? Man kann noch nicht mal von einem zarten Stück Fleisch träumen, ohne dass einem ein Haufen Idioten in die Quere kommt.«
Er verscheuchte eine unsichtbare Fliege; in seiner Geste lag kalte Feindseligkeit. Erneut griff er nach dem Löffel und begann, im Kaffee zu rühren.
»Ach, Jonas, wenn ich deine blauen Augen hätte, und dein Engelsgesicht …!«
»Wozu sollte das gut sein?«
»Um mein Glück zu versuchen, verdammt! Sieh dir doch mal meine Visage an, und dazu diese Wampe, die wie Gelatine auf meinen Knien wabbelt, meine Stampfbeine, auf denen ich kaum gerade gehen kann, und zu allem Überfluss dann auch noch die Plattfüße …«
»Die Mädchen achten doch nicht nur darauf.«
»Schon möglich, aber zufällig habe ich ihnen kaum anderes zu bieten. Weder Weinfelder noch Kellereien und nicht einmal ein Bankkonto.«
»Du hast andere Qualitäten. Deinen Humor zum Beispiel. Die Mädchen lieben es, wenn man sie zum Lachen bringt. Und dannbist du doch ein anständiger Kerl. Du trinkst nicht und du drehst keine krummen Dinger. Das alles zählt doch auch.«
Simon machte eine wegwerfende Handbewegung.
Er schwieg eine Weile, verzog ein paar Mal die Lippen, dann murmelte er:
»Glaubst du, dass Liebe Freundschaft aussticht?«
»Was meinst du damit?«
»Ich habe vorgestern Fabrice dabei überrascht, wie er unserer Madonna den Hof gemacht hat … Ich schwör dir, das ist die reine Wahrheit. Ich habe ihn
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