Die Schuld des Tages an die Nacht
ist schlimm daran, zu lieben und geliebt zu werden? Émilie ist kein Objekt, kein Kunstwerk, das man in irgendeinem Laden kauft, keine Konzession, um die man feilscht. Sie gehört nur sich selbst. Sie ist frei, zu wählen, frei, zu verzichten. Es geht darum, ein Leben zu teilen, Simon. Und zufällig erwidert sie meine Gefühle. Was soll daran verwerflich sein?«
Simon ließ sich nicht von seiner Meinung abbringen. Er saß mit geballten Fäusten am Tisch, seine Nasenflügel bebten vor Wut. Er sah Jean-Christophe in die Augen und betonte jede Silbe einzeln, als er erwiderte:
»Was tun wir dann hier, wenn du dir so sicher bist? Warum hast du uns gerufen? Warum müssen wir dein Plädoyer über uns ergehen lassen, wenn du doch meinst, dass du dir nichts vorzuwerfen hast? Willst du dein Gewissen erleichtern oder uns zu Komplizen deiner Schandtat machen?«
»Weit gefehlt, Simon. Du liegst völlig daneben. Ich habe euch nicht hergebeten, um mir euren Segen zu holen, geschweige denn, euch zu bekehren. Es geht um mein Leben, und ich bin groß genug, um zu wissen, was ich will und wie ich es bekom menkann … Ich habe die Absicht, Émilie noch vor Weihnachten zu heiraten. Und ich brauche Geld, nicht eure Ratschläge.«
Simon erkannte, dass er zu weit gegangen war und kein Recht hatte, Jean-Christophes Entscheidung anzufechten. Er lehnte sich im Stuhl zurück, starrte an die Decke und verzog das Gesicht. Sein Atem ging laut.
»Findest du das nicht ein bisschen voreilig?«
Jean-Christophe wandte sich an mich:
»Findest du das ein bisschen voreilig, Jonas?«
Ich antwortete nicht.
»Bist du sicher, dass ihr wirklich etwas an dir liegt?«, fragte Simon.
»Warum sollte ich daran zweifeln?«
»Sie ist ein Kind der Stadt, Chris. Sie ist völlig anders als die Mädchen hier vom Dorf. Wenn ich schon sehe, wie sie Fabrice einfach abserviert hat …«
»Sie hat Fabrice nicht abserviert!«, brüllte Jean-Christophe erbost.
Simon beschwichtigte ihn mit beiden Händen:
»Okay, okay, ich nehme zurück, was ich gesagt habe … Hast du mit diesem Mädchen schon über deine Absichten gesprochen?«
»Noch nicht, aber bald. Mein Problem ist, dass ich pleite bin. Die paar Ersparnisse, die ich hatte, habe ich in den Bordellen und Bars von Oran verpulvert. Wegen der Sache mit Isabelle.«
»Eben«, bemerkte Simon. »Du hast dich gerade erst von dieser Trennung erholt. Ich bin mir sicher, dass du noch nicht wieder den vollen Durchblick hast und dass deine Flamme nur ein Strohfeuer ist. Du solltest dir Zeit lassen, dir keinen Strick um den Hals legen, bevor du dir über deine wahren Gefühle im Klaren bist. Ich frage mich außerdem, ob du nicht nur Isabelle eifersüchtig machen willst?«
»Isabelle? Das ist längst vorbei.«
»Man schlägt seiner ersten Schulhofliebe nicht so mir nichts, dir nichts die Tür vor der Nase zu, Chris.«
Gekränktund gereizt durch Simons Vorhaltungen und mein Schweigen, lief Jean-Christophe zur Wohnzimmertür und stieß sie auf.
»Jagst du uns davon, Chris?« Simon war empört.
»Ich hab euch lang genug ertragen. Und du, Simon, wenn du mir nichts leihen willst, ist das nicht weiter schlimm. Aber verschon mich wenigstens mit deinen halbgaren Überlegungen zu einem Thema, das offensichtlich dein Vorstellungsvermögen übersteigt.«
Jean-Christophe wusste genau, dass das ungerecht war und Simon sein letztes Hemd für ihn gegeben hätte. Er wollte ihn nur verletzen, und er traf ins Schwarze, denn Simon stürmte wie ein entfesselter Tornado aus dem Wohnzimmer. Ich musste die Beine in die Hand nehmen, um ihn auf der Straße noch einzuholen.
Mein Onkel rief mich zu sich ins Arbeitszimmer und bat mich, auf dem Sofa Platz zu nehmen, auf dem er sich gerne zum Lesen ausstreckte. Sein Teint war frisch, er hatte ein wenig zugenommen und wirkte insgesamt verjüngt. Sein Händedruck war noch leicht zittrig, aber sein Blick hellwach. Jedenfalls war ich froh, wieder den Mann vor mir zu haben, der mich vor dem Polizeieinsatz von Oran so begeistert hatte. Er las, schrieb, lächelte und spazierte regelmäßig mit Germaine am Arm durch die Welt. Ich sah ihnen immer gerne zu, wie sie Seite an Seite flanierten, in solcher Eintracht und Harmonie, dass sie ihrer Umwelt kaum Beachtung schenkten. In der Schlichtheit ihrer Beziehung, dem perlenden Fluss ihrer Kommunikation lag eine Zärtlichkeit, eine Tiefe, eine Wahrhaftigkeit, die sie in meinen Augen fast heilig erscheinen ließ. Sie waren das bemerkenswerteste Paar, das mir je
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